Herr Gu Shusheng klingt förmlich und so habe ich ihn auch noch nie genannt, aber so steht es in meinen Notizen. Kennengelernt haben wir den Mann mit der explosiven Stimme neben anderen Personen des spirituellen Verweilens in einer Taichi-Kommune, die bemüht darum ist, alte chinesische Künste wiederzubeleben und zu fördern. Taichi, Kungfu, historische Musikinstrumente oder das Räucherhandwerk… diese Dinge… und während die Kommune dies konzentriet tat, uns vorführte, ging Herr Gu Shusheng nebst erbaulicher Körperübungen, die er uns ebenfalls vorführte, gerne beschwingt bis rückwärts und wusste auch sonst, was alles gesund ist. Anfangs nannten wir ihn noch Hacker, -der Hacker-, weil er sich als solcher vorstellte und mit diesem Job in seiner Vergangehnheit millionenschwer wurde, doch bald schon war er für uns nur noch Bartmann, – der Bartmann -, und wir machten uns heimlich über seinen taoistisch anmutenden Fusselflaum lustig, der ihm bedeutungsschwer von den Schläfen, die Wangen entlang und das Kinn seitlich herab spross, jetzt, heute,  da er kein skrupelloser Millionär und Digital-Robin Hood mehr ist, sondern nur noch glühender Adept altchinesischer Tugenden in traditionellem Gewande. Mit der Moral seiner zurückliegenden Arbeit hat er kein Probelm. Solange er nur ethisch einwandfrei böse Firmen knackt und hackt, ist alles gut, findet er. Leider oder zum Glück konnte er trotz dieser moralisierenden Rechtfertigung seine Tätigkeit irgendwann nur noch als Zeitverschwendung empfinden. Vor allem aber war er es leid, Nutten für Geschäftspartner zu ordern und üppige Dinner abzufeiern. Das musste sich ändern. Und es änderte sich. Heute ist Bartmann nur noch legerer Land-Luftikus, Bauernhofbesitzer und Schweinezüchter. Das ist der bessere Weg. Denn: „Man braucht kein Geld“, sagt er.  … schön, sage ich, aber: Gar keines? „Keines.“ Bartmann sieht mich streng und mitleidig ob meiner Nachfrage an. Und unterschlägt seine Lebensfinanzierung. Das von ihm bewegte Qi kann, so denke ich, allein auch ihn nicht satt machen. Tatsächlich aber schwebt er irgendwie durch Zeit und Tag, hat das Leben absolut begriffen, auch dessen Sinn, und verschickt auf WeChat gerne Bilder, wie er auf einsamen, stillen Felsen hockt und wahlweise chinesische Flöte spielt oder versunken meditiert. Frei ist, wer Entscheidungen treffen und jederzeit flöten kann. So gesehen. „Erst Schicksal, dann Glück, dann Fengshui. Und dann gibt es nur noch einen kleinen Spielraum, den man selbst bestimmen kann.“ So Bartmanns Theorie. Am Schicksal kann man nichts ändern. Am Glück schon. Jedenfalls: von nun an hält er den gesetzten Begrenzungen und Determinerungen souverän dagegen.

Seinen eigentlichen Namen, den ich, wie gesagt, noch nie benutzt habe, finde ich nun, da ich ihn hier immer wieder schreibe, doch nicht so übel. Literarisch betrachtet. Herr Gu Shusheng. Aber das liegt wohl daran, dass dieser chinesische Aussteiger mittleren Alters eben gar nicht wie ein Herr aussieht und auch, weil er lauter und schneller redet als etwa das Tonniveau eines brummenden Zeltes des Münchner Oktoberfestes hergeben könnte, gerade so als müsste seine Zunge ein schallendes Trommelblech zum Takt altchinesischer Weisheiten schlagen.

Möglich zwar, dass Herr Gu Shusheng damit hin und wieder einfach nur mal die Felsenstille vertreiben möchte. Wahrscheinlicher aber ist, -… das will ich nicht ausschließen,-  dass er das alte China samt westlicher Philosophien selbst erfunden hat, also hypothetisch, und dann könnte es sogar sein, dass er  sogar die verflixte Formel für die Unsterblichkeit gefunden hat. Nämlich in sich drin. Wo Glück ja gemeinhin ist. Es ist möglich. Und wer würde dann noch annehmen, dass das eruptiv, hackende Sprechvermögen einfach nur eine Verlagerung des Ex-Jobs als Hacker auf die gewandelte spirituelle Persönlichkeitsstruktur ist oder die Männer in und um Peking herum einfach so sind oder … ach, ich weiß auch nicht, würde mich aber schon gerne mit Bartmann in den Ring der Dialektik schmeißen und hier und da widersprechen, doch das ist schwierig, kann ich doch immer noch kein Chinesisch und Bartmann nur einen einzigen englischen Satz: „What are you feeling?“ Was gerade mal für ein „good“ und den Ausstoß eines Kichern reicht. Andererseits: Gehen nicht alle Gedanken und Worte in diesem einen einzigen, wichtigen Satz auf? Ja, Bartmann ist, er weiß es ja schon, ein Philosoph. Und ob laut oder nicht, ich mag ihn. Und Bartmann mag es, wenn ich ihm manchmal an seinem Bart zupfe, von dem er, wie er beteuert, sich jederzeit trennen könnte. Aber das glaube ich ihm nicht, auch nicht das Glück seines Lebens, das mir zu sehr wie eine künstliche Sehnsuchtskulisse und gar nicht so intellektuell abgeschlossen erscheint wie ihm selbst.

Nachdem wir schon ein halbes Jahr zuvor mit ihm quasi zwei Tage verbracht hatten, zu Gast in der Kommune, zu Gast bei seinem sehr armen Onkel in einem sehr armen Dorf,  und auf einem nicht renoviertem Stück chinesischer Mauer in der Hebei Provinz, das wir bei heftigem Sturm und Steilhang nur mit Mühe erlaufen, und nur in Kreisbewegung besteigen durften, – denn alles ist ein Kreis-,  kam ich auf die Idee, ihn um einen weiteren Tag zu bitten. Selbst aufgewachsen in einem jener armen Dörfer müsste er die Siedlungen auf dem Land von Peking gut kennen, so meine Vermutung. Ich ersann daher die sonst schwierigen und weiten Wege von Dorf zu Dorf mittels seines Autos und seiner Ortskenntnis zu bewältigen. Vor allem aber wollte ich endlich in das historische, westlich von Peking im Bezirk Mentougou gelegene, Dorf Cuandixia, das sich an den Longtou Berg schmiegt und aus der Mingzeit original erhalten ist. Soweit der Reiseführer. „Yes, I´m free“, war die Antwort von Bartmann und der Tag in unserem Terminkalender für ihn geblockt. Er vergisst sein Versprechen auch nicht und holt uns am Tag des Ausflugs von einer U-Bahn-Station ab. Die Fahrt ist endlos. In Peking oder auf dem Land von Peking sind Maßstäbe, die sprengen wenig spirituell Raum und Zeit. Zweieinhalb Stunden fahren wir. Doch es lohnt sich. Ich staune und genieße die Fahrt in die Berge hinein. Eine phantastische Landschaft. Shasha indes leidet sehr. Es muss sehr anstrengend für sie sein. Also sehr laut. Und mit sprituellen Themen hat sie es nicht so. Hauptsächlich sehe ich sie nicken. Manchmal nur teilt sie mir etwas mit. Ich bin derweil gespannt, ob sich diese weite Fahrt tatsächlich lohnen wird, denn das Dorf gilt zwar als Attraktion, doch auch als touristisch.

Auch frage ich mich, ob es mir gelingen würde, die ein oder anderen Bauern zu einem Gespräch zu bringen. Doch weder gelingt es dem Dorf, mich richtig zu beeindrucken, obgleich seine eng stehenden Steinhäuser wirklich sehr alt ehrwürdig sind, noch finde ich überhaupt Menschen, und noch weniger solche, die auf Äckern arbeiten und mit mir reden wollen. Ich finde gar keinen. Fast keinen. Das Dorf ist wie eine Kugel und es scheint, als wollten sich deren durchaus belebten sechsundsiebzig traditionell-chinesische Hofhäuser ineinander verkeilen, um sich so gegen die Winterkälte oder den Feind oder heute gegen den Touristen zu wappnen. In dem Fall gegen mich. Man zahlt Eintritt, läuft vorbei an Kunstschülern, welche die ancient City auf Leinwand bannen, umrundet das Häuserknäuel mittels eines höher gelegenen Pfades und bewundert die Vielzahl an Schnitzereien und Verzierungen in Stein und Holz und aus Farbe, bestaunt die Geisterwände und die kleinen taoistischen Kobolde und freut sich, dass der Kommunismus dieses Dorf, das nach Regeln des Fengshui gebaut und gestaltet ist, tatsächlich übersehen und hat und es daher unversehrt ließ.

Doch letztlich ist mir alles zu museenhaft. Lieber wäre mir ein altes, herunter gekommenes Dorf, eines, wie das von Bartmanns Onkel, das kurz vorm Abriss steht, aber eben noch da ist… eines, in dem Menschen leben, die, von Hunger geplagt, heimlich Wildschweine in den Bergen jagen und dann gemeinsam nach Hause schleifen. Ein Dorf mit Leben und Geschichten. Und der Tag muss ja noch weitergehen. Wohin jetzt? Bartmann überlegt, ruft schließlich einen Freund an… Nickt. Wir haben ein Ziel. „Gilt als schönstes Dorf Chinas“, sagt er. Na dann. Ich bin gespannt. Shasha hat in den vergangenen Stunden ausreichend Vertrauen gewonnen, so dass des Bartmanns Lebensgeschichte sich allmählich immer mehr verdichtet. Ähnlich wie bei einer Zwiebel. Haut für Haut. Von allgemeinen bis falschen Aussagen hin zu differenzierteren, ehrlichen Wahrheiten. So erfahren wir zum Beispiel, dass die berufliche Laufbahn Bartmanns 2001 in einer Cyberfirma damit begann, Firmensoftware auf Sicherheitslücken zu prüfen. „Dafür muss man wissen, wie Hacker vorgehen“, erklärt er. Als angestellter IT-Ingenieur verdiente er sehr gut. Nach vier Jahren und immer wieder Gehaltserhöhungen, Überstunden und wenig Zeit wechselte er zu einer kleineren Firma als technischer Leiter. Zeit hatte er nun mehr, auch mehr Mut und gründete  zeitgleich gemeinsam mit Freunden eine eigene Firma, welche schnell Millionenumsätze machte und Bartmanns Gehalt verdoppeln konnte. „Der anfängliche Erfolg hat mich erfüllt“, sagt er, „doch ich wurde gierig. Ich wollte immer mehr haben.“ Er sparte, kaufte Aktien, vernetzte sich gewinnbringend, wusste hohe Beamte zu schmieren und lebte auf großen Füßen. Er sagt: „Für ein Abendessen 20.000 Yuan auszugeben war normal!“ Wer Geld verdienen will, muss spendabel sein. Heißt: „Für große Projekte muss man eine Million auf der Seite haben.“ Keine Bars oder Karaoke, nein, das ist „unteres Niveau“. Einfach jeden Tag üppig essen gehen und die schon erwähnten, jungen Begleiterinnen den Beamten zuführen. „Das ist so in dem Business.“ Und wenn es gut läuft, rollt es von alleine immer weiter. „Ein Projekt stachelt das nächste an!“ Wie bei ihm. Solange, bis was schief geht. Wie bei ihm. „Es war ein Schock für mich“, sagt Bartmann. Er verlor mit einem Schlag sehr viel Geld, doch immerhin: Er begann nachzudenken und wollte in Folge einige grundlegende Dinge in der Firma ändern. Die anderen durchaus nicht und so stieg er nach fünf Jahren einfach aus, bekam und bekommt aber als einstiger Gründer noch immer Geld. Und so erklärt sich auch, wie er das macht: Von ohne Geld leben! Aussteigen in China kann nämlich nur der, der kann! Es ist auch nicht so, dass der Wandel sehr krass war, denn das Haus auf dem Land, das er heute hat, gab es schon. Das hat Bartmann zu einer Zeit finanziert als seine Firma noch jung war und kapitalen Überschuss produzierte. Doch schon damals war eine Stadtflucht ein kostspieliges und populäres Vergnügen. Aber einen Hof haben und einen Hof bewirtschaften sind zweierlei.

Zu jener Zeit war Bartmann ja noch Cyberman ohne Zeit und auch seine Eltern hatten wenig Lust auf seinen Hof, obgleich sie selbst Bauern waren. Noch weniger aber wollten sie, dass Fremde dort wohnen würden und zogen schlussendlich doch ein. „Ihr Gemüt war immer schlicht“, sagt Bartmann. „Ohne Gefühl für Tier und Umgebung! Einfach Leben. Einfach Schlachten.“ Auf dem Hof änderte sich das aber mit einem Mal und der Vater sagt nun plötzlich Dinge wie: „Guck mal, die Blume!“ Das freut den Sohn. Glück und Wandel in der ganzen Familie. Oder doch nicht ganz? Denn da sind noch Frau und Kind..  Frau und Kind? Aber wo sind die? Ganz einfach! Bartmann hat nicht nur den Job, sondern auch Frau und Kind entsorgt. Quasi. Mit denen war er nämlich nie glücklich. „Außer am Anfang!“, sagt er, nennt entschuldigend den Grund: „Liebe auf den ersten Blick!“ Und revidiert dies ein paar Sätze später… Shasha wird nun  in ausführlichen Beschreibungen Zeuge einer ausgewachsenen, tragischen, chinesischen Soap-Opera, in der die Mutter seines Kindes die eigentliche große Liebe Bartmanns durchtrieben auszuschalten wusste, Bartmann in seinem Liebeskummer von dieser Raffinesse nichts bemerkte, nach der zweiten Wahl griff, – eben jene Intrigantin-, diese schwängerte und der Form halber heiratete. Plan geglückt. Leider hat die Frau weder jemals die Erwartungen der Eltern noch die des Ehemannes erfüllt und fünf Jahre später kam es zur Scheidung. Der einzige, der bis heute nichts von den Wirren weiß, ist der inzwischen neunjährige Sohn. Für ihn scheint es nicht ungewöhnlich zu sein, dass hauptsächlich die Mama mit ihm lebt und, dass er den Papa so selten zu Gesicht bekommt. „Das Leben ist voller Widersprüche und Wegkreuzungen“, kann Bartmann dazu  nur sagen, „und Glück besteht darin, heraus zu finden, was da jedesmal das Beste ist.“ Er selbst hat seine Wahl getroffen, – spirituelle Wege kann man nur alleine gehen, –  und offenbar lebt es sich mit dieser neuen Entscheidung sehr gut von den noch früheren Entscheidungen, den Aktien und den Erträgen seiner Firma. Seine Ex-Frau dagegen hat es nicht so glücklich erwischt. Sie ist depressiv und immer wieder muss er zu ihr und sie im richtigen Leben und Denken unterweisen, sie aufmuntern. So Bartmann. Die wahre Geschichte seiner großen Liebe, die ohne sein Wissen auf ihn gewartet hatte, kennt er heute. Er könnte diesen Faden aufgreifen. Aber das will er nicht. „Es ist vorbei.“ Der neue Lebensabschnitt ist da. Mit Hühnern, 100 Yuan-, und Schweinen, 5000 Yuan das Stück. Eigene Obst- und Gemüseernte…  Und Freiheit.

Wir sind alle kleine Rädchen und fühlen uns dennoch im Getriebe unersetzlich… Ich wollte kein Rädchen mehr sein. Glück ist die Freiheit, selbst zu entscheiden.

Nur manchmal, das kann ich spüren, da fehlt etwas zu seinem Glück… die weibliche Berührung, ein Umstand, der sich einfach nicht spirituell sublimieren lässt. Doch in einer Gesellschaft Liebe, freie Liebe, zu finden, in der man mit Ende zwanzig verheiratet sein und ein Kind haben muss, ist das schwer. Gut, so gesehen, lässt die neuerliche Scheidungsquote auf beiden Seiten der Geschlechter neue Hoffnung am Horizont wachsen. Und was Bartmann betrifft, ganz gleich, ob mir seine leidenschaftliche Hinwendung zur Kultur des alten Chinas überzeugend erscheint oder nicht, er hat gezeigt, man kann aus dem System aussteigen. Mit Geld freilich. Doch die Freiheit kam auch schon im alten China immer erst am Ende. Erst dem Staat dienen, dann an sich selbst denken. Also im Effekt eher eine chinesische Variante von Geldwäsche? Der Individualismus in China hat es echt schwer. Wie dem auch sei, wir sind da. Unser neues Objekt des Staunens heißt „Hancunhe-schönstes Dorf Chinas“. Und die polternden Ausschüttungen eifriger Erkenntnisse unseres Begleiters  nehmen nicht nur ein jähes Ende, sie verkehren sich geradezu grotesk ins Gegenteil. Hancunhe Modern Village, 40 Kilometer südwestlich im sechsten Kreis von Peking gelegen, ist ein bis ins Kleinste ausgetüfteltes, sozialistisches Musterdorf. Wir steigen aus dem Auto, das Tor zu einem modernen, aber klassisch chinesischen Innenhof öffnet sich und Bartmanns Freund, sowie dessen Eltern begrüßen uns herzlich. Zunächst werden wir ins Haus geführt und bekommen Wasser und das Angebot eines Abendessens, das wir aber dankend ablehnen. Wir möchten gerne, bevor die Sonne ganz untergeht, das Dorf kennenlernen. Und so machen wir uns freundlich begleitet auf durch gleichförmige, schachbrettartig, farblich jeweils einheitlich angelegte Straßenzüge, die Heimat von 910 Familien sind. Die ehemals sehr armen Bewohner dieses autarken Dorfes können wahrscheinlich heute noch kaum glauben, wie um sie geschah. Sie waren vorwiegend Wanderarbeiter, am untersten Ende der Gesellschaft, doch jetzt und gegen nur wenig Eigenbeteiligung, weil man ihr voriges Haus einfach abgerissen hat, sind sie mit einem Mal glückliche Besitzer moderner Wohnblocks in einer künstlichen Welt mit allem, was an Vergnügungen, Fabriken, bester Infrastruktur und vor allem Arbeitsplätzen -ganz wichtig – dazugehört. Es gibt Kino, Reisebüro, Hotel, Post, Krankenhaus, Bildungszentrum und Schwimmbad, ein eigenes Rathaus, Shops, Parks und Fitnessgelände. Auf dem Hauptplatz prangt ein großes Museum, das den Neuaufbau des Dorfes minutiös dokumentiert. Dort spazieren wir jetzt hin. Herr Tian, Bartmanns Freund, ein sanftmütiger, intelligenter Chinese und Elektrotechniker, Fachgebiet Hochspannung, begleitet uns. Er ist selbst in dem Dorf aufgewachsen und so etwas wie eine Dorfberühmtheit, denn er war der erste Junge, der es als einfaches Kind von Wanderarbeitern an die Senior Highschool geschafft hat.

Dafür bekam er sogar eine Auszeichnung. „Wer hier lebt, ist stolz“, sagt er. So oder so. Die meisten haben mitgeholfen beim Bau der Häuser. Möglich gemacht hat dies ein Immobilienmakler, der selbst aus diesem Dorf stammt und mit viel Engagement und schließlich auch Unterstützung der Regierung sein Heimatdorf in einen sozialistischen Wegweiser für die tatsächliche Zukunft Chinas verwandeln wollte. Als kleine Baugruppe versuchte er bereits Anfang der Achtziger eine neue Straße zu bauen, doch es gab zu viele unterschiedliche Meinungen zu seinem Vorhaben, die zu bündeln ihm nicht gelang. Seine Idee eines Komplettabrisses des ganzen Dorfes dagegen wurde später tatsächlich umgesetzt, ebenso wie der Plan, nicht einfach nur neue Häuser zu bauen, sondern diese in eine Selbstversorgerstruktur einzubetten, denn nur so könne man aus armen Menschen glückliche Menschen mit Arbeit machen. Das klingt logisch und innovativ. Anfang der Neunziger und mit einer Geldspritze von elf Milliarden Yuan war es dann soweit. An die Stelle der abgerissenen Häuser kam jeweils ein Haus von etwa 72 qm. Die Kosten beliefen sich auf 200.000 Yuan pro Bauobjekt und abgeglichen mit dem Enteignungsgeld, war es praktisch jeder Familie möglich, diese Kosten auch zu tragen. Heute sind all diese Häuser um ein großes Vielfaches wertvoller. „Und so ist hier jeder ein Millionär.“ Die Rechnung des Immobilienhelden, der selbst dabei reich und berühmt wurde, ging auf. Und natürlich, keiner der Einwohner würde wieder so leben wollen wie zuvor. Wenn es also für diese Menschen jetzt überhaupt noch eine Verbesserung geben könnte, dann müssten sie schon in das nicht schönste, sondern das allerschönste Dorf Chinas ziehen, Dorf Nummer Eins. Es findet sich in der Shanxi-Provinz, sieht genau so aus, ist aber weiter entwickelt. „Mehr Wohlstand, mehr Sozialismus.“ Bedeutet: „Keine Mauern. Keine abgeschlossenen Türen.“ Doch auch im Sozialismus sind manche gleicher als andere. Wir durchlaufen eine breite Allee, gesäumt von Gingkobäumen und mächtigen extravaganten Villen, deren bunte Säulen nur ganz ungefähr an Griechenland oder Italien erinnern. Besonders stolz, aber das sehen wir nicht, ist man im Dorf auf das hightech-farming, eine Treibhauskultur, in die man 20 Millionen Yuan gesteckt hat. Wohnen darf hier übrigens nur, wer schon immer da war. Wer doch kommt, muss sich mit dem Wohnen in einer Extrasiedlung in sechststöckigen Wohnhäusern begnügen. Spätestens wenn die Alten sterben, mag sich das ändern. Wir gehen weiter und gucken und staunen. Fühlen uns wie in einer Filmkulisse nach Feierabend. „Nordchina leidet unter Wassermangel“, sagt Herr Tian beim Gehen, und erklärt, dass das Dorf an einem Projekt arbeitet, Wasser aus dem Yangtse in das Dorf zu befördern. Die dazu passende Fabrik, welche die für das Vorhaben nötigen Betonröhren herstellt, gibt es schon. Als wir das Museum erreichen, wird es gerade geschlossen, aber für uns, nach kurzer Erklärung, wieder geöffnet. Ein bisschen Angeben nach Feierabend ist noch drin. Im Museum durchläuft man mehrere Hallen und kann die stufenweise Entwicklung der neuen Bebauung nachvollziehen. Es gibt auch jede Menge Fotos wichtiger Politiker, des Präsidenten, des Initiators, Trohphäen und 3D-Miniaturen. Und es gibt einen Raum, in dem jede einzelne Familie photographisch dokumentiert ist. Vorher, nachher. Altes Haus, neues Haus. Das schweißt zusammen. Im Keller findet sich eine kurze Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis heute und im Nebengebäude kann man einen kleinen Turmaufstieg begehen und auf den wahr gewordenen sozialistischen Traum herab blicken und gerne schwärmen. „Nicht so super!“, findet Bartmann aber. Natürlich. Endlich sagt er wieder was. „Zu luxuriös. Zu wenig Fengshui.“ Aber Herr Tian sieht das anders. Er pfeift auf das Fengshui. „Die Menschen sind wichtiger“, sagt er, „und die haben auch ein Energiefeld.“ Gemeinsam mit den Meinungsverschiedenheiten und einem laut dauerpupsenden Bartmann, was Shasha und mich zu heftigen, pubertären Kicheranfällen verleitet, bummeln wir weiter gen Vergnügungsmeile.

Vor uns entfaltet sich ein Park im Stile des Pekinger Sommerpalastes. Nur etwas kleiner, grauer und einsamer. Was aber der Sommerpalast nicht hat: Ein riesiges Flugzeug, Verteidigungsschießstände und einen Panzer. Bartmann und ich besteigen alles. Wenn schon, denn schon. Ich krieche sogar in den kalten, grauen Panzer hinein. Bartmann hilft und macht Fotos. Nun ja. Während wir weiter an einer breit flächigen Fitnessanlage vorbeischlendern sagt er: „Du musst unbedingt die Frau von Herrn Tian kennenlernen.“ „Warum?“ „Sie weiß, was Glück ist.“ „Okay, gut…!“ Inzwischen ist es sehr dunkel. Das bleierne Grau hat wohltuend die Grenzen zwischen Sozialismus und Kapitalismus verwischt und mahnt nun an das Elementarste in China: Essen! Herr Tian möchte uns zu Fischkopf einladen, eine hiesige Spezialität. Eben noch Auge in Auge mit den verendeten Fischen, die im trüben Uferschaum dümpeln, weiß ich nicht, ob das ein gute Idee ist, aber Hunger habe ich schon. Wir gehen also und verlassen das gespenstische Dorf. Aber um auch etwas Gutes zu sagen: Die Luft ist besser als in der Innenstadt von Peking, natürlich, und der Autoverkehr auf den sehr breiten Straßen praktisch nicht vorhanden. Die Kinder können auf der Straße spielen. Können. Ich weiß nicht, gibt es welche? Friedlich eingeschläfert und vage glücklich gemacht von der sozialistischen Gleichheitsformel dümpeln die Dorfbewohner vermutlich gerade vor einem großen Flachbildschirm. Sie haben jetzt alles, was sie zurück in die Gesellschaft gebracht hat oder was sie, wie Bartmann vielleicht sagen würde, geködert mit Wohlstand, zum Teil des Getriebes gemacht hat. Freundlich gefügiges modern village, Zukunft Chinas. Unersetzlich ersetzlich. Ich will weg. Gut, dass ich gleich eine Frau treffe, die weiß wie Glück geht. Wir steigen wieder ins Auto. Gegessen wird außerhalb. Das ist gut. Shasha findet Herrn Tian sehr nett. „Er hat viel Respekt vor seiner Frau. Und er ist liebevoll zu seinen Eltern“, sagt sie anerkennend. Das punktet enorm, kommt nicht oft vor und ist in Anbetracht der Scheidungsrate, die uns in den Interviews der letzten Tage um die Ohren fliegend, wohltuend. Kurz vorm Ziel hält Herr Tian sein Auto an, die Tür des Rücksitzes öffnet sich und seine glückliche Ehefrau, Frau Wang, steigt zu. Ich sage „Nihao!“, sie sagt: „Oh, die Deutsche kann aber gut Chinesisch!“ und setzt sich froh gelaunt zu uns. Das Restaurant, das wir besuchen, ist lärmender als die Straße. Und auch die Unterhaltung an unserem Tisch ist lebhaft. Ich glaube, Bartmann war etwas voreilig in seiner Annahme, dass Frau Wang die ultimative Glücksexpertin sei. Jetzt gerade jedenfalls findet er es ausgesprochen ungenügend, wenn sie behauptet, sie brauche zu ihrem Leben nach dem Dienst an der Schule nicht mehr als ihren kleinen Feierabend, an dem sie überdies noch nicht einmal irgend etwas Besonderes tue außer allenfalls ihren Mann lieben. Zu profan. Zeitverschwendung. Sie kontert. „Kümmere du dich erstmal richtig um deinen Sohn.“ Damit trifft sie einen Schwachpunkt. Für sie ist Bartmanns proklamiertes und philosophisch unterwandertes „I am free“ verantwortungslos und ohne Reiz. Nicht praktikabel für eine Gesellschaft. Zu ichbezogen. Es geht hoch her zwischen den beiden. Frau Wang erweist sich als überzeugte Sozialistin und steht voll hinter dem Kurs von oben, Bartmann ist der Erkenntnistheoretiker.

Während sie lebhaft mit den Stäbchen im gewaltigen Fischkopf stochert, sagt sie: „Es weiß doch jeder, dass der momentane Kapitalismus nur ein notwendiger Umweg zum totalen Sozialismus ist.“ Und da niemand antwortet, schaut sie uns staunend an. „Oder etwa nicht?“ Das empört Bartmann. Er hält dagegen: „Die Regierung benimmt sich wie der liebe Gott.“ Was für ein gewagter Satz! An einem Esstisch! Es ist, als streite das altchinesisch verspielte Museumsdorf mit dem sozialistisch gleichförmigen Musterdorf. Herr Tian ist gemäßigter. Er ist Buddhist, gibt zu bedenken: „Auch äußere Faktoren wie eine Gehaltserhöhung können durchaus das Gefühl von Glück herbeiführen.“ Er sagt aber auch: „Am glücklichsten bin ich jedoch, wenn ich jemandem helfen kann!“ Man wird sich nicht einig. Und sollte ich gedacht haben, dies hier sei ein Restaurant in Freiheit, also außerhalb des Musterdorfes… stimmt nicht. Es gehört der gleichen Baufirma, welche das Dorf verantwortet und aufgebaut hat. Der Sozialismus, das ist das besondere an ihm, hat unsichtbare Octopusarme. Und damit diese hier bald noch länger werden können, wird das Restaurant in absehbarer Zeit am Ende der modernsten Bahnstrecke Chinas liegen. Selbstfahrend, vollelektronisch. Endstation totale Glückseligkeit. „Im Buddhismus soll jedes Jahr ein anderer Buddha führend sein“, versucht es Herr Tian wieder, um die Runde zu mäßigen, „zur Zeit ist es der Milo-Buddha!“ Und das ist super, denn der ist dick und isst lieber, statt zu diskutieren. Das sollen wir jetzt auch. Gewöhnlich wird mir in solchen Momenten gesagt, Buddha habe heute Geburtstag, deswegen müsse man essen, aber so geht´s natürlich auch. Und so werden Museumsdorf und Musterdorf ganz einfach weggekaut. Essen tun alle gern. „How is your feeling?“, fragt mich Bartmann darum schmatzend. „Great!“, sage ich, grinse, ziehe an seinem Flaum und habe ihn lieb. Irgendwie. Herr Gu Shusheng. Ein kleiner Junge auf der Suche nach dem großen Glück.

©️ http://china-blog.simone-harre.de

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