Willst du für eine Stunde glücklich sein, so betrinke dich. Willst du für drei Tage glücklich sein, so heirate. Willst du für acht Tage glücklich sein, so schlachte ein Schwein und gib ein Festessen. Willst du aber ein Leben lang glücklich sein, so schaffe dir einen Garten.

chinesische Weisheit

He Jiehua, der Taxifahrer oder die Flucht aus der Großstadt

Tagelang sind wir in den großen Städten unterwegs. Städte, die von hoffnungsvollen Chinesen gegen ein armseliges Leben auf dem Land eingetauscht werden. Städte mit endlosen Außenbezirken aus Beton und lethargischem Warten auf das Glück. Orte, die trotz des Glitzers und bunter Malls in ihrer schieren Größe auch Kraft für große Traurigkeit haben. Ich empfinde das so und fühle mich immer kleiner werden, ein kleiner grauer Abglanz der gehetzten Moderne. Viele Gesprächspartner haben bis dahin ihre Einsiedlergedanken mit mir geteilt, ihre Sehnsucht nach Rückzug, nach Atemholen und Inspiration in der Ruhe der Natur. Doch es ist ein Unterschied, ob man neugierig zuhört oder es selbst fühlt. Jetzt fühle ich es. Ich fühle Unglück. Will weg aus den pulsierenden, zerreibenden und die Menschen so achtlos verheizenden Metropolen. Und komme in Lijiang an. Lijiang in Südchina. Es gleicht einer Offenbarung. Ankunft auf einem kleinen Flughafen.

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Lijjiang-Flughafen

© Simone Harre

Sonne, klarer Himmel. Berge. Auf dem Vorplatz warten Leute auf die Reisenden. Einer hat einen riesigen Hund bei sich. In den großen Städten sieht man nur kleine Hunde. Ganz kleine. Hunde, die wie ihre Besitzer möglichst anspruchslos und platzsparend leben. Aber dieser Hund ist groß und hechelt Freiheit und Vitalität. Wir steigen in ein Taxi. Landschaft zieht an uns vorüber. Nichts als Gegend. Ich sehe einen Angler. Einen echten Angler. Wie auf einer chinesischen Postkarte. Glück. Ich freue mich riesig und beginne wieder zu wachsen, schüttle Grau ab. Ein Geruch von Kohl hängt die ganze Zeit in meiner Nase. Es gibt bessere Gerüche. Aber jetzt freue ich mich auch über Kohl. Nur, woher kommt dieser Geruch? Draußen sehe ich nichts weiter als einfache Graslandschaft. Wang Bo, mein Dolmetscher, unterhält sich bereits mit dem Taxifahrer. Wir stellen jedem Taxifahrer, mit dem wir fahren, immer genau zwei Fragen: „Welche Blume möchtest du gerne sein?“ Und „Ist das Glas halb voll oder halb leer?“ Bo muss viel erklären, bis die Taxifahrer den Sinn jener merkwürdigen Fragen verstehen und warum ich sie stelle. Jedes Mal wundere ich mich, wie viel er erklären muss! Wenn es den Taxifahrern endlich dämmert, lachen sie, und es folgt ein weiterer Redeschwall, nun ihrerseits, immer auch unterbrochen von einem langgedehnten „Ahhh!“ seitens Bo, der verstehend nickt und hier und da nachhakt. Immer der gleiche Vorgang, immer die gleichen Ahhhs! Und immer verstehe ich nichts.

Was hat er gesagt?

Frage ich auch jetzt ungeduldig und erwarte ob der langen chinesischen Litanei eine ausgedehnte Lebensgeschichte. Doch Bo dreht sich nur kurz zu mir um: „Halb voll!“, sagt er und schaut schon wieder nach vorne. Ich stutze. „Halb voll? Mehr nicht?“ Bo schüttelt den Kopf. „Aber die vielen Worte?“ Bo zuckt mit den Schultern. „Unwichtig.“ Und ich seufze. Nur manchmal steigt Bo aus einem Taxi und sagt dann zufrieden: „Es war sehr interessant, er hat viel erzählt.“ Dann waren viele Worte auch viel Inhalt.

Bo hat inzwischen Übung. Ich muss ihn nicht mehr erinnern, die Taxifahrer zu befragen. Kaum, dass er in einem Auto Platz nimmt, legt er los und versucht das Vertrauen des Fahrers zu ankern. Der Taxifahrer, der uns nun durch das wunderbare Grün fährt, ist freundlich und lässig und wechselt allmählich in den Erzählmodus viel Inhalt. An seinem Arm hängen jede Menge Perlenbänder. Und über dem Steuerknüppel ist ein rot-weißes Häkeldeckchen gespannt. Wir erfahren, dass er der Naxi-Minderheit angehört, eine Minderheit, die von den tibetischen Nomaden abstammt und im 10. Jahrhundert eingewandert ist. Wir erfahren auch, dass er erst seit vier Jahren mit seinem Privatwagen Taxi fährt und manchmal Reisegruppen führt. Sein Sohn studiert in Kunming Sport. Studiengebühren sind teuer. Daher die zusätzlichen Taxifahrten. Zusätzlich? Da klinke ich mich wieder ein. „Was ist er denn noch?“ Wieder viele Worte. Schließlich übersetzt Bo. „Er ist Bauer“, sagt er. „Hat Ackerland. Baut Bio an. Reis und Mais. Züchtet Hühner und Schweine und ….“ „Bauer???“ entgegne ich. Ach so! Nun verstehe ich. Nun sehe ich es auch. Unter der Rückbank lagert jede Menge Gemüse. Auch Kohl. Wie konnte ich das nur übersehen! „Bo!“ Ich zupfe ihn am Ärmel. „Frag ihn, ob wir ihn besuchen dürfen.“ Bo fragt. Wenig Worte. Ein einfaches Nicken des Taxifahrers. Es geht auch kurz. Wir dürfen. Bo ruckelt auf seinem Vordersitz und macht seine Handtasche parat.

Daher weiß ich: Wir sind gleich am Ziel. Aber ach…! Ganz vergessen… Die zweite Taxifrage. „Bo? Die Blume? Welche Blume möchte er sein? Hast du ihn gefragt?“ Bo nickt, öffnet schon die Tür. „Egal welche“, sagt er, „einfach irgendeine!“ „Okay“, sage ich. „Gut“, denn das ist schon viel.

He Jiehua, der Bauer und He Guiyue, die Bäuerin

Die meisten Taxifahrer genieren sich bei der Frage nach der Blume. Vielleicht erscheint ihnen diese Frage zu persönlich, vielleicht zu weiblich, vielen jedoch ist es wohl vor allem eine Frage, derer sie sich in ihrer Funktion als Taxifahrer nicht als würdig erachten. Wählen sie dennoch eine Blume, so entscheiden sie sich gerne für eine möglichst unscheinbare, eine mit einem milden Geruch. Jiehua ist offenbar nicht ganz so bescheiden, aber er ist ja auch kein echter Taxifahrer, sondern Bauer. Die Vorstellung eine Blume zu sein, irritiert ihn nicht, reizt ihn aber auch nicht zu poetischer Ausdeutung in altchinesischer Manier. Eine Blume ist eine Blume. Mehr nicht.

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Bauern-Veranda

© Simone Harre

Ein Tag nach unserer Ankunft kommt er uns wie versprochen abholen. Zunächst fahren wir die gleiche Strecke wie auf unserer Fahrt vom Flughafen, nur diesmal in die andere Richtung. Dann biegen wir ab und verlassen die Schnellstraße. Unterwegs und mitten in den Feldern hält Jiehua sein Auto an. Eine Frau arbeitet sich durch hohes Ackergrün, sie unterbricht ihre Arbeit, nimmt ihren Strohhut ab und steigt zu uns auf den Rücksitz. Es ist Jiehuas Frau. Guiyue. Freundlich zurückhaltend, wortlos, so bleibt sie unbeweglich sitzen, bis wir da sind. „Ich war mal sehr schön“, sagt sie später. Und kichert. Worte ohne Wehmut. Worte, die sich in den Gang der Zeit betten und in die Natur, die beide gemeinsam bewirtschaften. Ihr Mann nickt. Er ist immer noch stolz auf sie. In einer Filmvorführung im Dorf hat er sie kennengelernt und sich in sie verliebt. Keine arrangierte Ehe. Seither führen sie ein Leben auf Augenhöhe. Als Bauern müssen beide gleichermaßen anpacken, sich aufeinander verlassen können. Beide haben nur die Grundschule besucht, danach galt es zu Hause mitzuhelfen. Die Jugend vergeht dabei schnell. Das ist in Ordnung, findet Guiyue und trägt es gelassen. Doch als ich sie ebenfalls nach der Blume frage, sagt sie:

„Natürlich will ich eine Rose sein!“

Eine Rose, schön wie sie damals eine war. Jiehua zeigt mir auf seinem Handy ein Foto von ihrer Hochzeit. „Ohaaa!“, sage ich. Beide lachen und winken ab.
Das Auto rattert weiter und erreicht schließlich sein Ziel. Jiehua und Guiyue wohnen in einem sehr kleinen Dorf auf einer sehr großen Farm. „Wow!“, sagen wir alle, als wir aussteigen. Noch immer tragen wir die Tristesse und die Sehnsucht der chinesischen Stadtbewohner in uns.

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Bauern-Küche

© Simone Harre

„Wow!“ So viel Platz, so viel Idylle. Wir betreten den geräumigen Innenhof, der gesäumt ist von einem Schweinepferch, Granatapfelbäumen, Maisbergen, einem etwas versteckten Klo und einer breiten Veranda aus Holz. Wir gehen umher und schauen. „Jede Familie hat Solarenergie“, sagt Jiehua und pflückt ein paar Granatäpfel von den Zweigen, die in den Schweinepferch hängen. Das fette rosa Schwein grunzt. Es weiß noch nicht, dass es in zwei Monaten im Dezember beim Schlachtfest sein Leben lassen wird. Eine sehr wichtige Tradition im Dorf. Am Ende des Jahres laden die Familien sich gegenseitig ein. 51 Familien gibt es. Ein wochenlanges Gelage in den Höfen. Von früh bis spät. „Es herrscht Anwesenheitspflicht bei den Schlachtfesten“, sagt Jiehua. Nur bei Trauerfeiern und Hochzeiten müsse man nicht unbedingt dabei sein. Wir betreten das Wohnzimmer. Guiyue stellt frisch gegrillten Mais auf den Tisch.

Ich frage, was der wichtigste Gegenstand im Haus ist. Der glücklichste. Jiehua zuckt mit den Schultern. „Wir haben nichts Besonderes!“ Außer vielleicht…ja, die Kreuzstickereien. Guiyue holt eine hervor, die größte, und breitet sie aus. Eine lange Decke. Das Motiv darauf: Die zwölf Damen des berühmten chinesischen Romans Der Traum der roten Kammer. Ein Jahr hat sie daran gearbeitet, sagt sie. „Alleine der Rahmen hat 1000 Juan gekostet.“ Ein wertvolles Stück also. Die Stickerei macht Guiyue Spaß. „Ich mache das solange ich noch kann“, sagt sie. Das klingt als sei sie schon sehr alt. Dabei ist sie erst vierzig. Wir machen ein Foto von ihr und ihrer Decke. Etwas zu dunkel im Wohnzimmer. Ob sie schon einmal das Meer gesehen hätten, frage ich. „Nein“, sagt Jiehua, „dafür ist keine Zeit.“ Die Leute in den Bergen würden gerne wissen wie das Meer ist, aber keiner im Dorf verreise je.

„Wenn man Geld übrig hat, baut man an seinem Haus.“

Eine Lebensaufgabe. Auch für Jiehua. „Als ich hier einzog“, sagt er, „war das Haus leer.“ Stück um Stück hat er so aus der Farm einen Ort gemacht, an dem man leben kann. Das Geld, das nicht ins Haus fließt, geht an seinen Vater. Jiehua muss für Essen und Krankenhausgebühren aufkommen. Sein jüngerer Bruder ist für die Mutter zuständig. Die Schwester muss nur verheiratet sein. Die Fürsorge für die Eltern obliegt einzig den Söhnen.

Das Leben ist in jeder Hinsicht klar strukturiert. Ebenso die Zufriedenheit. „Mein Glück ist, genug zu essen und zu trinken zu haben“, sagt Jiehua. „Das ist alles.“ Und es ist das, worum sich beide tagsüber kümmern.

Reiner einfacher Lebenserhalt. Von der Hand in den Mund, wie man so sagt. „Und abends?“, frage ich. „Wir bleiben meistens unter uns“, sagt Jiehua, „Guiyue stickt und ich schaue Fernsehen oder rauche Wasserpfeife.“ Guiyue lächelt. Ungerührt. Wir gehen spazieren. Jiehua zeigt uns, was ihm gehört, was er bewirtschaftet und führt uns herum. Der Staat hat ihm ein Stück Land zugewiesen. Geschenkt. So ist das. Was sie anbauen, gehört ihnen. Ein Lebensraum, der es möglich macht, weitestgehend autark und gesund zu leben. Einzige Lebenshaltungskosten sind 30 Yuan im Monat für Wasser und Strom und Verwaltungsgebühren. Sonst nichts. Sonst Anbau zum Eigenbedarf. Keine Pachtgebühren, keine Abgaben. Keine Steuern. Wir staunen nicht schlecht. Es klingt paradiesisch. Zum Leben reicht es jedoch nicht. Dennoch: „Es soll ein Anreiz sein“, erklärt Jiehua. „Damit die Menschen auf dem Land bleiben.“

Und so wie Jiehua und Guiyue ein Leben mitten im Grünen führen. Im friedvollen, aber harten Nirgendwo. Nur die Flugzeuge, die regelmäßig vom nahen Flugplatz aus durch den Himmel ziehen, künden vom Leben außerhalb. Deutsche Bürger würden sich wohl über die dauernden und tieffliegenden Flugzeuge beschweren. Nicht so Jiehua und Guiyue. Sie sind stolz auf die Flugzeuge. Als ich sie nach einem besonders glücklichen Erlebnis frage, nennen sie genau das und deuten in den Himmer: Die Flugstrecke über ihren Köpfen. Das Zeichen der Moderne. Also doch Sehnsucht nach der Großstadt? Nein, das nicht. „Wir leben hier schon glücklich“, sagt er. „Nur die Sonne scheint so stark. Deswegen haben wir so dunkle Haut.“ Aber das Wichtigste vielleicht, fügt er hinzu:

„Lijiang ist ein Ort, wo man sich langweilen kann.“

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Bauern-Bild

© Simone Harre

Er sagt: „Die Leute gingen um neun zur Arbeit, um zwölf haben sie schon wieder Mittagspause, die machen sie bis halb zwei und um sechzehn Uhr gehen sie heim.“ lachen fügt er hinzu: „Ich habe keinen Stress.“ Und genau so steht er vor mir inmitten des Dorfes, inmitten der grünen Landschaft, relaxt, sich Gedanken um nichts machend, irgendwie zufrieden mit sich und der Welt. Klar, so ganz rosig ist das alles nicht, dennoch: Eingenommen von diesem Bild und der augenscheinlichen Idylle frage ich Jiehua, welche Beziehung er zum Anblick der Natur hat, die ihn umgibt, zu den Wiesen, den Bergen im Hintergrund… Würde er dies alles als schön bezeichnen? Ich denke dabei an die Inspirationen der chinesischen Landschaftsmalerei. „Keine“, sagt er.

„Das ist normal.“

Wir gehen weiter. Auf den Ziegeldächern hocken große tönerne Katzen, die ihr riesiges Maul aufsperren und nach Geld lechzen. Es ist Oktober und das Dorf ist voller riesiger Spinnen. In den Büschen hocken sie, an den Wänden, in Massen. Überall. Netze ohne Ende. Teils laufen wir durch richtige Spinnentunnel. Ich schaudere. Ein Spinnendorf. So etwas habe ich noch nie gesehen.

Jiehua bemerkt mein Interesse und nimmt eine der Spinnen in die Hand, zeigt mir, dass dieses schwarz-gelbe Exemplar nicht giftig ist. Spielt mit ihr und zieht ihr den Seidenfaden aus den Drüsen. Wir fotografieren das und Jiehua denkt sich seinen Teil. Oder auch nicht.

Aber über eines hat er inzwischen wirklich nachgedacht, denn auf einmal sagt er:

„Am vertrauten Ort gibt es keine Landschaft.“

Das war fast eine philosophische Feststellung. Ich nicke. So ist das wohl. Eine Blume ist eine Blume. Das Glück ist ein Glück. Und ich bin, wann immer ich will, eine Rose.


© http://china-blog.simone-harre.de

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