Wei Jinji, Buchhalter, 37 Jahre
Es ist später Nachmittag in Peking und ich betrete eine mir bis dahin unbekannte Superlative Chinas, ein Ort, welcher eine Masse Mensch in grauen Zahlenräumen gefangen hält. So erscheint es mir, doch für die Menschen, die hier ihren Lebensunterhalt verdienen, ist das hoher Standard, Eldorado des ultimativen Aufstiegs in einem exklusiven Hochhaus mit exklusivem Empfang und nach chinesischer Realität ganz einfach die größte Buchhaltungsfirma Chinas. Wow.
Die Firma hat acht Etagen gemietet, beherbergt ein ausgelagertes Großsystem an Buchhaltern, die ferne Kunden betreuen und macht im Jahr 500 Millionen Euro Umsatz. 69 % wird davon als Lohn abgeführt. Nur die Besten der Besten arbeiten hier. Sie verdienen gutes Geld. Zimmer an Zimmer. Rechner an Rechner. Den ganzen Tag Zahlen.
Mir wird ganz schwindlig und ich muss unweigerlich an den schüchternen Herrn Taschenbier denken, der eines Tages von einem vorwitzigen Sams daran gehindert wird, sich wie sonst in sein Büro zu begeben, um nicht weiter benannte Zahlen zu zählen. Ich schaue mich um, dieser Ort scheint mir wie gemacht für eine Romanfortsetzung. Doch nein, kein Sams zu sehen. Stattdessen erscheint Wang Hui, unser Kontaktmann, und holt uns von unten aus der Lobby ab. Weicher Händedruck, blass und ebenfalls einer der Besten. Sogar Chef von einer Abteilung der Besten. Aus diesem Grund hat er nicht nur einen eigenen Tisch, sondern sogar ein eigenes Büro, in dem eine schmale, spartanische Pritsche steht für den Fall, dass Wang Hui mal in der Firma übernachten muss. Muss er? Wang Hui nickt. Ziemlich oft sogar und sehr zur Sorge seiner Mutter. Wir schauen uns auf der Etage um: Schreibtische, blendendes Licht, Großraum. Doch wir bleiben nicht, denn Wang Hui möchte, dass wir zu Wei Jinji gehen. Der sei ein Millionär. Nicht ganz so sehr Millionär wie Wang Hui selbst, aber dafür „viel interessanter“, „einzigartig“, lobt dieser. Außerdem noch Anwalt und „sehr bekannt“. Wir gehen also. Der großartige Wei Jinji kommt uns schon entgegen. Ebenfalls blass, ebenfalls weicher Händedruck, fast unsichtbar und sehr schüchtern. Er lächelt verlegen. Weiß nicht, was er zu uns sagen soll. Vom Sams immer noch keine Spur.
Wir gehen in einen Besprechungsraum. Der ist riesig. Ein füllender Tisch. Eine goldene Wand mit einer Replik uralter gelehrter Schriftzeichen, welche geistige Würde repräsentieren sollen und ein Blick durch eine gewaltige Glasfront auf eine ebenso gewaltige Glasfront des gegenüberliegenden Hochhauses. Wir setzen uns an das Kopfende des riesigen Tisches, etwas verloren. Früchte und Tee stehen bereit. Es kann losgehen.
Wei Jinji kommt scheu, doch umso freimütiger zur Sache. Er ist der Vorzeigemann des Komplexes und als solcher möchte er uns von seinem „Kampf“ erzählen, spricht dabei einen Topos an, der in den Gesprächen mit den Chinesen oft wiederkehrt und durchaus wörtlich zu nehmen ist. Der Aufstieg aus eigener Kraft von ganz unten, um allen alles zu beweisen, nach ganz oben, ist wohl das markanteste Markenzeichen dieses Landes. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Der amerikanische Mythos in China. Wei Jinji, in grauem Anzug, uns freundlich anlächelnd, ist ebenfalls ein chinesischer Kämpfer. Ein Mann aus dem Strudel der Selbstbehauptung. Er stammt aus Yangshuo, der Sohn von Bauern. Seine Kindheit war bitterarm, und „nicht glücklich“, wie Wei Jinji betont. Er möchte, dass wir das verstehen. „Meine Mutter musste am Tag nach meiner Geburt direkt wieder aufs Feld“, sagt er. Die Arbeit war hart und er und seine vier Geschwister litten unter ständigem Hunger. Das Essen bestand nur aus Gemüse. „Fleisch gab es nie.“ Brauchte man Geld für etwas Außerordentliches, musste man auf Essensrationen verzichten. Zum Beispiel ein Paar Turnschuhe gegen ein halbes Jahr ohne Frühstück. Das war Usus und frühe Mathematik. Oder wenn man so will: überlebensorientierte, frühe Buchhaltung. Jedenfalls aber war dies die Lebensrealität von Wei Jinji bis weit in seine zwanziger Jahre hinein und ebensolang blieb er ein ausgesprochen durchtrainierter, strategischer Hungerkünstler. Natürlich war es nicht leicht, hungrig zu lernen, weder in der Schule, noch im Studium. Außerdem litt Wei Jinji seit frühester Jugend unter starken Schmerzen. Folgen einer Kopfverletzung. „Mein Bruder hat die Tür zugehauen und mein Kopf war dazwischen.“ Wei Jinji zuckt mit den Schultern. „Ich hätte einen Arzt gebraucht. Aber der war zu teuer.“ Da konnte man nichts machen. Was man machen konnte: Lernen. Denn eines war Wei Jinji von da an klar geworden: „Nur mit Fleiß kann ich aus dieser Situation herauskommen.“ Also büffelte und büffelte er, Schmerz und Hunger ignorierend, immer die Zähne zusammenbeißend. Er wollte unbedingt an die Universität, vor allem aber, das hatte er sich in den Kopf gesetzt, er wollte Buchhalter werden und später einmal zu einer der fünf größten Buchhalterfirmen der Welt gehören. „Nur zehn Prozent schaffen das“, sagt er. Wei Jinji deutet stolz auf sich. „Ich habs geschafft. Ich bin hier.“
Doch der Preis war hoch. Tageslicht sah er praktisch nie. Wei Jinji studierte im Hauptstudium Business und Verwaltung mit dem Nebenzweig Buchhaltung und in seiner Freizeit abends einfach noch Jura. Nach Ende des Studiums arbeitete er in Hongkong als Buchhalter und später als Anwalt mit Schwerpunkt Steuerrecht für internationales Klientel. Er hatte schnell viel erreicht. Doch sein Erfolg und sein Glück sättigten ihn nie dauerhaft. „Ich brauchte immer wieder neue Träume.“ Und so wechselte er erst die Firma, ging dann als Steuerberater in die USA, studierte dort nun amerikanische Buchhaltung, außerdem erneut in der Freizeit Jura, diesmal auf amerikanisch, und schrieb nebenbei immer wissenschaftliche Artikel über chinesische Steuern. Er wollte wie das große China als einzelner zeigen, dass er den USA ebenbürtig sein, vielmehr noch, dass er sie übertreffen konnte. „Ich glaube“, sagt Wei Jinji darum, „ich bin das einzige Beispiel in China, das alles in sich vereint: Steuer, Buchhaltung, Recht, chinesisch, amerikanisch.“ Mit diesen enormen Vorzügen ersann er sich nun eine große amerikanische Karriere. Schließlich, er hatte so viele Auszeichnungen in der Tasche. Er brachte es auch tatsächlich bis zum Anwalt in New York, aber der rechte Durchbruch war dies in seinen Augen irgendwie nicht und kam auch später nicht. Er hatte eine Grenze erreicht, an der es nicht mehr weiter ging. Warum er kein Englisch gelernt habe, frage ich. „Ich war doch nur zum Arbeiten in Amerika“, antwortet er erstaunt und schaut mich ratlos an. Ich schaue ratlos zurück. Er ist ein Büchermann, ein Mann der Innenräume, denke ich. Und klar, ihm ist auch niemals ein Sams begegnet. Dann ist das halt so…. „Aber die Liebe!“, sagt Wei Jinji. „Ich habe in Amerika meine Frau gefunden.“ Also im Netz. Eine Chinesin. Und: „Es war Liebe auf den ersten Blick.“ Wei Jinjis Augen leuchten kurz. Beide heirateten noch in Amerika und bekamen zwei Kinder. Das erste in den USA und, als Wei Jinji aufgrund besseren Jobangebotes zurück nach China ging, das zweite in China. Er ist stolz auf seine Kinder, er liebt sie, ja sicher, er nickt, doch es klingt ein wenig nach erbrachter Leistung.
Die Sonne ist inzwischen fast untergegangen und der Raum dämmrig dunkel geworden. Wei Jinjis Hintergrund ist nicht mehr durchsichtiges Glas, sondern chinesische Nacht. Er wiegt sich in seinem schwarzen Sessel, die Hände über Kreuz. Der Gesprächsstoff ist in der Gegenwart angekommen, im Raum seiner kindlichen Wünsche. Das Ziel, das er sich jugendlich setzte, hat er tatsächlich erreicht. Er ist einer der Besten. Direktor für Steuerrecht. Unter ihm 30 Personen. Er ist der Wei Jinji in einem der fünf größten Buchhalterfirmen weltweit. So hat es sein sollen. Außerdem verdient er Millionen. Hungern muss keiner mehr in seiner Familie. Doch glücklich? Ist er glücklich? Wei Jinji schaut mich fragend an. Ja. Nein. Er wiegt den Kopf. Und er weiß: Irgendetwas stimmt nicht, irgendetwas fehlt… was das ist? „Kommunikation. Offenheit“, sagt er. Menschliche Interaktion. „Das kann ich nicht.“ Eine echte Achillesferse seines Erfolges. Er hat den Zertifkaten nachgejagt. Sich überqualifiziert. Und das Leben vergessen. Sich selbst. Er überlegt. Wie könnte sein Leben noch sein? Wonach sehnt er sich? Gibt es überhaupt ein Wunsch außerhalb der Arbeit? „Ich würde gerne Weltreisen machen“, sagt er. „Vom Geld her wäre das auch kein Problem.“ Und er könnte häufiger bei der Familie sein. „Das wäre auch schön.“ Zum Beispiel. Aber… er kann nicht. „Ich will nicht.“ Sagt er und erschrickt. Er schaut mich an. Sein Glas sei noch immer halbleer und der Hunger der Kindheit jage ihn weiter. Ein neuer Job in Shenzhen wartet bereits auf ihn. Ein höher dotierter. Die Familie im Schlepp. „Was, wenn die Familie nicht mitzieht?“, frage ich. Würde er dann auf den neuen Job verzichten? Was ist das größere Glück? Jetzt, da er den Ort seines lebenslanges Zieles verlassen will? Wei Jinji zögert. Möchte ja sagen und schüttelt dann unmerklich den Kopf. „Das sind harte Fragen“, sagt er. Und: „Danke, dass Sie solche Fragen stellen.“ Etwas Schönes passiert. Wei Jinji erlaubt mir, seine Verletzlichkeit zu berühren. Ob seine Odyssee eines Tages ein genießendes Ufer erreicht? Wei Jinji weiß nicht recht. „Ich bin wie eine Winterkirsche“, überlegt er. „Eine Winterkirsche muss immer weiter kämpfen, sie muss den Winter überstehen, um dann zu blühen.“ Fleißig und nachhaltig, niemals aufgeben. Das sei er, Wei Jinji, „das hat mich überleben lassen“ und „das schätze ich an mir“. Dennoch:
„Eine Blüte bin ich noch nicht. Und darum muss ich weiterkämpfen.“
In tiefer Dunkelheit verlassen wir das luxeriöse, schillernde, stille Gebäude der blassen Buchhalter und werden wieder in den lauten Verkehr Pekings gespuckt, in den Strudel des chinesischen Alltags, in dem nicht Innehalten, sondern ein lemminggleiches Fortkommen das Maß des Lebens aller angibt. Doch etwas beruhigt mich an diesem Abend. Ich weiß, ich werde Wen Jinji an diesem Abend nicht aus dem Kopf gehen. Vielleicht, das würde mich freuen, war ich ein klein wenig Sams, nicht genug für ein Leben, doch vielleicht gut genug für den Keim eines kleinen, neuen Gedankens, der, wenn nicht heute, vielleicht an einem anderen Tag aufgehen wird und in Wen Jinjis Worten zum Abschied – „Ich verspreche Ihnen, in Zukunft mehr meine Familie in den Focus zu bringen“- Wind unter den Flügeln sein. Wind zum Niedersinken.
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