Das Sonnendorf in Peking: Ein Ort der Niemandskinder.

Ein Kinderheim für Kinder von Straftätern

Das Sonnendorf. Klingt schön. Liegt schön. Und lässt sich hübsch anschauen. Bunt und locker verteilte Wohnblöcke und Gewächshäuser. Großflächig angelegte Wiesen und Äcker und alles weit außerhalb des stinkenden Hochhausinnercircels Pekings gelegen. Ein Eldorado. Ein Ort mit einer richtig guten Aura möchte man sagen. Und doch ist es eine Idylle mit einem zweiten Gesicht. Denn das Sonnendorf ist nicht etwa eine Kommune für alternative chinesische Glückssucher mit Bio-Anbau, nein, an diesem Ort leben etwa hundert Kinder, deren Eltern inhaftiert sind, hingerichtet wurden oder noch werden. Es sind Kinder, um die sich sonst keiner kümmert. Keine Familie. Auch nicht der Staat. Chinesiche Niemandskinder, wenn man so will. Wie das sein kann? Noch immer herrscht in den Köpfen der Chinesen ein Denken, das schon im Kaiserreich Usus war und von Mao fortgeführt wurde: Der Sohn eines Helden ist ein Held. Und der Sohn eines Verbrechers ist ein Verbrecher. Das Stigma ist perfekt. Ebenso wie das Trauma auf beiden Seiten. Eltern und Kinder werden sich vom Moment der Verhaftung an in den allerseltensten Fällen wieder sehen. Wenn sie Glück haben, werden die herumstreunenden Kinder von Mitarbeitern eines der Sonnendörfer aufgegriffen. Wenn sie noch mehr Glück haben, dürfen sie vielleicht einmal mit den Eltern telefonieren. Nur ob das Glück ist?

Mildtätigkeit ist nicht unbedingt das Credo Chinas. Jeder muss an seinem eigenen Glück schrauben. Zwar werden die Millionäre nicht müde mir in meinen Interviews mit ihnen zu erzählen, was sie alles wem spenden, doch im Grunde herrscht Hilfsbereitschaft in konfuzianischem Sinn nur im familiären Rahmen. Für ein fremdes Kind aus einer obendrein schlechten Familie ist kein Platz vorgesehen. Eine reiche Buchhalterin sagte einmal in gerührtem Tonfall aus dem Fenster deutend: „Wenn ich im Winter wie jetzt die bedauernswerten Obdachlosen sehe, weiß ich, dass ich dankbar sein muss.“ Ob sie ihnen dann etwas geben würde? Sie schaut mich erstaunt an. Was für eine dumme Frage! „Jeder muss sich um sich selbst kümmern“, erklärt sie, nun wieder ungerührt, und schlürft teuer dampfenden Tee aus ihrer Tasse. So ist das in China. Und so ist das mit jenen unglücklich verlassenen Kindern. Doch wie kann ein Kind, das von jetzt auf gleich von seinen Eltern fort gerissen wird, sich um sich selbst kümmern?

Eine Polizistin, Zhang Shuqin, ließ der Anblick solch dramatischer Verhaftungsszenarien nicht mehr los, ebenso wenig die Mütter und Väter, die sich ihr im Gefängnis, in dem sie zehn Jahre arbeitete, zu Füßen warfen und um ihre verlorenen Kinder weinten, von deren Verbleib sie zumeist keine Informationen erhielten. Leid auf beiden Seiten. Ganz gleich, was dem voranging, es schmerzte Zhang Shuqin zutiefst. Und dann tat sie etwas, was in China nicht oft geschieht. Sie begann sich uneigennützig und mildtätig für die Not der Kinder der Inhaftierten einzusetzen und diese im Land zusammen zu sammeln. Wo immer sie von einem solchen Fall erfuhr, reiste sie hin. So beginnt die Geschichte der chinesischen Sonnendörfer. Die Geschichte einer chinesischen Heldin.

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Es ist schon eine Weile her, da hat dieses besondere Kinderheim in der hiesigen Presse von sich Reden gemacht, klar, geht es hier doch ganz zentral um Menschenrechte. Hinrichtungen. DAS Thema in Deutschland, wenn, abgesehen von verspeisten Hunden, über das virale Land der Mitte gesprochen wird. Ein schönes und reißerisches  Mediensujet. Es ließ jedoch auch mich neugierig werden und ich wollte selbst sehen, wie es in einem für unsere Gesellschaft so undenkbaren Ort wirklich zugeht. Zuhause trug ich mehrere Stapel Kinderkleider zusammen,  nahm außerdem eine Riesentüte Spielsachen mit und hatte so, zusammen mit dem noch größeren Kleiderkoffer meines Dolmetschers Wang Bo, ganz schön viele Dinge im Schlepp. Eintrittsgeld quasi. Oder Höflichkeit. Wie auch immer. Man will uns empfangen.

Ankunft bei Sonne im Sonnendorf. Staubige Wege. Gute Luft. Viel Platz. Viel Stille. Augen reiben. Wow. Das ist die erste Empfindung. Wie gesagt.

Leider ist das Sonnendorf morgens reichlich ausgestorben. Die meisten Kinder sind noch in den umliegenden Schulen verteilt, lediglich die ganz kleinen sind da und zu denen schickt man uns ersteinmal. Man hat gerade keine Zeit. Wir mischen uns wie angewiesen unter tobendes Kindervolk. Im Nu sind Ballons und Spielsachen über den Boden verteilt. Die Kinder freuen sich. Vor allem die Ballons finden sie amüsant, besonders, wenn wir sie zum Quietschen bringen. Irgendwann wird zum Mittagessen an einen langen Tisch gerufen und dann ist es auch für uns endllich so weit. Ein Mann holt uns ab und bittet uns in einen Besucherraum. Dort sollen wir per Bildschirmgeflimmer die Geschichte des Sonnendorfes erleben. Das ist einfacher so, findet er. Also gut.

Los geht´s. Wir sehen Zhang Shuqin, die ehemalige Polizistin, bei der Arbeit. Wir sehen auch Gerichtsverhandlungen und tränenreiche Mütter. Wir sehen den Aufbau des Dorfes. Und wir sehen die Kinder. Alles mit Untertiteln und in wackelnden Bildern.

In der Provinz Shanxi hat Zhang Shuqin 1996 das erste Kinderheim gegründet. Aus einem Heim sind längst mehrere geworden. Insgesamt beherbergen die Sonnendörfer in China rund 1000 Kinder. Doch im Verhältnis zu einer Million notdürftiger Kinder von Straftätern im ganzen Land, so zumindest die uns genannte Zahl, ist das fast nichts. Groß dagegen bleibt die Wichtigkeit des Engagements aus tiefstem Herzen. Denn nur so konnte sich allmählich die Gesellschaft in China für die Not dieser besonderen Kinder sensiblisiseren. Das ist wichtig. Erfährt die Arbeit von Zhang Shuqin doch kaum staatliche Unterstützung. Und Geld braucht es natürlich auch hier.

Ein einzelner Heimplatz kostet etwa 400 Euro im Jahr. Hochgerechnet auf 100 Kinder in einem Dorf ist das eine Menge. Auch die psychologische Betreuung der Kinder kostet Geld und die Besuche beim Arzt. Außerdem müssen Heranwachsende viel essen. Für Fleisch reicht es aber fast nie. Um dennoch alles am Laufen zu halten und die Versorgung der Kinder zu gewährleisten, ist das Unternehmen auf viel Hilfe angewiesen. Finanziell und sozial. Das Pekinger Sonnendorf beschäftigt etwa 45 Mitarbeiter, die Bezahlung liegt weit unter chinesischem Lohnniveau und hat mehr einen ehrenamtlichen Charakter. Auf das Geld schaut hier aber eh keiner. Auch nicht Li Hongjun, der den Fernsehapparat inzwischen ausgestellt hat und uns all diese Dinge erzählt. Er selbst verdient seinen Lebensunterhalt als Feuerwehrmann. Seine Devise ist:

„Zuerst Familie, Arbeit, Freunde. Und dann Helfen.“

Das sei die richtige Reihenfolge, sagt er und richtet sich sein Leben so ein, dass das Helfen im Sonnendorf Zeit findet. Li Hongjun ist ein wenig knorrig, er würde vielleicht gerne anderes tun als uns Fragen zu beantworten, aber nach und nach wird er zugewandter, schätzt uns neu ein und nimmt uns schließlich mit nach draußen. Noch immer ist alles ausgestorben, die großen Kinder des Kinderdorfes sind nach wie vor in der Schule. „Sie sollen früh Teil der Gesellschaft werden“, kommentiert Li Hongjun deren Abwesenheit, „das ist wichtig.“ Und Dank der sorgsamen Führung der Lehrer seien die Kinder in den Klassen auch einigermaßen integriert.

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Es ist ein wenig komisch nun durch die verlassenen, privaten Wohnstuben geleitet zu werden. Natürlich mustern wir alles neugierig. Die Stockbetten aus Stahl. Alles dürftig. Ein paar bunte Bilder an die Wände gepinnt. Im Winter bestimmt mächtig kalt. Und doch liebevoll. Eine improvisierte Zuwendung so weit Geld und Zeit eben reichen.

Draußen dominiert die Weite. Jetzt im Sommer besonders schön. Gewächshäuser, Gärten, Äcker. Wieder das Gefühl von Idylle. Kaum ein Kind in der Stadt, denke ich bei diesem Anblick, und hat es noch so reiche und gute Eltern, wird so eine paradiesische Umgebung zum Wohnen haben. Natürlich bewirtschaftet sich ein Idyll nicht von alleine. Jeder muss mit anpacken. Das ist neben der Wirtschaftlichkeit auch die Pädagogik des Kinderdorfes. Die Kinder bekommen jeweils eine eigene Parzelle Land zugeteilt und müssen diese bestellen. Die Arbeit wird mit Punkten ausgezeichnet und die Punkte werden in Geld eingetauscht. Die Schnelleren müssen auf die Langsameren warten. Dann erst gibt es Freizeit. Das ist das Prinzip. Kollektiv und Verantwortung. Oder Konfuzius. Jedenfalls: Die Kinder sollen früh lernen, sich selbst zu ernähren und selbständig zu sein. Sie sollen auch Werte lernen. Moral. Geld, das erfahren sie hier sehr deutlich, wächst nicht auf den Bäumen. Geld kommt nur, weil ein Herz, das von Frau Zhang, für sie pumpt und viele Helfer mit anpacken. An den Wochenenden tragen die Kinder ihren eigenen Teil zum Wohl des Kinderheimes bei. Denn dann öffnen sich die Tore und Besucher können durchs Dorf flanieren. In letzter Zeit kommen immer mehr. Helfen wird schick in Peking. Die Kinder verkaufen derweil Selbstgebasteltes und Selbstgekochtes und müssen erdulden angeschaut zu werden. Was im ersten Moment Zoocharakter hat, gibt gleichzeitig die Chance Grenzen abzubauen und beide Welten am Ende positiv zusammenzuführen. Auch für Hilfe zu werben. Die Dinge sind im Fluss.

Einmal im Jahr dürfen die Kinder ihre Eltern, so sie noch leben, im Gefängnis besuchen. Die Eltern dürfen auch für bestimmte Anlässe anrufen, zum Beispiel zum Geburtstag. Jedoch nur für fünf Minuten. Das wühlt sehr auf. Ist schwierig. Natürlich. Und die Kinder reden nicht gerne darüber. „Sie leben lieber in der Gegenwart und sehen das Gute, das ihnen hier widerfährt“, sagt Li Hongjun und ist glücklich, wenn die Kinder sich gut entwickeln und Höflichkeit lernen. Was zähle, sind einfache Gesten der Nächstenliebe, denn „das Umarmen ist wichtiger als das Geld“.

Li Hongjun ist inzwischen sehr freundlich und redselig. Er sieht, dass wir nicht da sind, um etwas abzuchecken. Vielleicht nimmt er auch unsere Anerkennung wahr. Sicher, dieser Ort ist in seiner Ausgangslage traurig, und doch vermittelt er so viel liebevollen Pragmatismus, Menschenverstand und zukunftsgewandte Pädagogik im guten Sinne der Selbstverantwortung, dass mich, uns alle, dieser Besuch noch lange nachhaltig berührt und nachdenklich macht. Mitten in einem chinesisch-kapitalistischen Moloch findet man einen Ort, an dem nicht Geld und Eigennutz das Thema ist, sondern die Fürsorge eines Kollektives, das über die Familie hinausgeht. So wie Li Hongjun sagt: ein Ort, der Nächstenliebe praktiziert. Das klingt fast christlich.

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Wir fragen Li Hongjun zum Abschied, was wir ihm für die Kinder da lassen können. Er sagt: „Geld für Fleisch, das wäre prima.“ Dann hätten die Kinder mal wieder ein tolles Abendessen. Das machen wir. Geld für Fleisch für hundert Kinder.

Am Abend ruft er uns froh an: „Es sind alle satt geworden.“

©️ http://www.china-blog.simone-harre.de

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