Herr Wang 57 Jahre, Frau Wang, 54 Jahre, Bauern
Es ist nachmittag und mir gegenüber sitzen zwei Wangs, ein Ehepaar. Sie leben und arbeiten auf einer riesigen, hoch gelegenen Bio-Pfirsichplantage in den Bergen Dalis, zwischen Sträuchern, Maisfeldern, Fischen und Hühnern, „freilaufenden glücklichen Hühnern“, wie man hier darauf Wert legt zu sagen, und von denen später eines hübsch zerhackt von Herrn Wang auf unserem Teller landen wird.
Die Wangs sind sehr liebenswürdig. Sie sprechen mit ihrem Herzen. Beide sind Mitte fünfzig und eigentlich Bauern, haben früher selbst Acker gehabt, hundert Kilometer entfernt, und Tabak angebaut. Ihr Haus gibt es noch. Dort sind sie nur noch selten. Erst kam Herr Wang. Dann kam Frau Wang. Heute sind beide quasi vom Verwalter der Plantage und Yao Yang, Teilhaberin des gepachteten Grundstücks, adoptiert und geliebter und geschätzter Teil einer ungewöhnlichen Patchwork-Großfamilie. Die Wangs sind dem Verwalter dankbar ergeben. Er hat sie einst finanziell aus einer schlimmen Notlage gerettet. Selten verlassen sie die Farm. Es gibt hier auch immer etwas zu tun. Im Sommer hautpsächlich Feldarbeit, im Winter tischlern, mauern, glasen. Einfach das, was so anfällt in einem Betrieb, der sich hauptsächlich selbst versorgt. Es geht Ihnen gut, keiner schickt sie weg, keiner beutet sie aus, sie haben finanziellen und sozialen Rückhalt und leben obendrein in einem landschaftlichen Paradies bei immerzu moderaten Temperaturen. Die Bedingungen stehen, zugegeben, ohne Vergleich. Nur das Meer, das kennen sie nicht. Sie würden es gerne einmal sehen und sie haben keine rechte Vorstellung davon außer: „Es muss blau sein.“
Und so sagt Herr Wang:
„Wir fühlen uns sehr glücklich. Man ist hier nett zu uns, wir haben viel Freiheit.“
Freiheit als Synonym von Glück nennen in dieser Gegend viele. Das ist obligatorisch. Vielleicht der Geist der Bais, ein starkes Volk, das hier lange herrschte und heute zu den zahlreichen Minderheitenvölkern Chinas zählt. „Wenn ich noch mal jung wäre, überlegt Herr Wang, würde ich vielleicht etwas mit Immobilien machen, das interessiert mich.“ Und Frau Wang sagt: „Ich wäre vielleicht gerne Direktorin von einem Kindergarten.“ Und wenn sie frei entscheiden könnten? Einfach so? Herr Wang muss nicht lange überlegen: „So eine Plantage wie diese hätte ich gerne.“ Das wäre toll. Doch im Grunde bedarf es nichts weiter als das Leben, das sie hier führen. Es ist nahezu sorglos, die Arbeit nicht allzu schwer und schon mehr als von ihrem Leben zu erwarten gewesen wäre. Herr Wang ist ein charmanter Mann, offenherzig. Anfangs ist es hauptsächlich er, der spricht. Er spielt allerlei Instrumente. Flöte, chinesische Geige. Die Instrumente sind aber nicht auf der Farm, die hat er in seinem Haus gelassen. Die Frau ist zunächst sehr zurückhaltend, nur der Mann soll sprechen. Doch nach und nach öffnet auch sie sich. Sie ist wie so viele Bauern Analphabetin. Es heißt, die Menschen hier auf dem Land seien kreativ veranlagt und so frage ich:
„Wenn ich euch einen Pinsel in die Hand geben würde, welches Wort würdet ihr schreiben?“ Er sagt: „VIEL.“ Sie sagt: „GLÜCK.“
Beide gehen sehr freundlich miteinander um. Streit gibt es praktisch nie. Sie sagt über ihn: „Er kann alles und hat einen tadellosen Charakter.“ Er sagt über sie: „Sie ist fleißig und ehrlich.“
Der schönste Tag in ihrem Leben war der Hochzeitstag. Geküsst haben sie sich aber nicht. Auch nicht beschenkt. Frau Wang kichert. Sie haben sich überhaupt noch nie irgendetwas geschenkt. Sie brauchen nichts. Sie besitzen auch nichts. „Gar nichts?“, frage ich. „Auch kein Erinnerungsfoto zum Beispiel von der Mutter?“ Sie schütteln den Kopf. Sie brauchen auch kein Geld. Also nur sehr wenig. Und wenn sie etwas mehr hätten? Was würdet sie kaufen? Sie sehen mich ratlos an. Zucken mit den Schultern. „Nichts.“ Dann: „Doch, vielleicht ein neues Kleidungsstück“, sagt Frau Wang zögerlich. Und so geht es weiter. Ich frage und frage…. und sie antworten und antworten. Egal, was ich frage. Sie lachen dabei viel, weil ich so komische Dinge wissen will, aber sie haben Spaß. Sie scheinen nur bei sich zu sein, kein Streben nach jenseits des Berges. Gut, sieht man von der Leidenschaft ab, Krimis im Kino der Stadt zu gucken. Das machen beide gern. Und natürlich ist auch bei den Wangs nicht alles rosig. Sorgen macht ihnen zum Beispiel die Situation ihres Sohnes. Die Ehefrau hat ihn verlassen. Ihn und das Kind dazu. Sie ist nie wieder aufgetaucht. Eine schlimme Situation für Vater und Kind und auch die Großeltern, denn nun sind sie es, die sich um das Enkelkind kümmern müssen. Gut, dass der Verwalter so ein guter Freund ist. Denn nach dem Kindergarten in der Stadt kommt es zum schlafen hier ebenfalls hoch auf die Farm. „Das tut uns im Herzen weh“, sagt Frau Wang. „Und wir wären glücklich, unser Sohn würde wieder heiraten. Kinder brauchen doch Eltern.“
Ihre grundsätzliche Anspruchslosigkeit, die dennoch weltzugewandt ist, rührt mich sehr. Es ist wie eine heilige Einfalt, die man bitte niemals aufwecken möge. Die beiden sind zwar arm und ungebildet und doch hell und intelligent und in einer anderen Gesellschaft wäre der hübsche Herr Wang vielleicht ein smarter Immobilienmakler geworden oder er hätte selbst eine eigene Farm und Angestellte. Auch Frau Wang könnte selbstverständlich astrein lesen und schreiben und vielleicht sogar unterrichten und sie beide wären in der Lage selbst andere Menschen zu unterstützen. Mit Geld. Wer weiß. Nur… ob sie glücklicher wären? Hier im Abendsonnenschein mit dem Blick in die weiten Berge, … ich weiß es nicht. Ich weiß nur, die Wangs haben ganz einfach ganz schön viel Glück gehabt.
©️ http://china-blog.simone-harre.de
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