Donnerstagabend im Goethe-Sprachlernzentrum in Qingdao.
Ich gebe eine Lesung. Auf Deutsch. Da ich mich ziemlich am Anfang der ersten Interviewreise in China befinde, glaube ich noch, dass die von mir ausgewählten Portraits meiner literarischen Arbeit über das Glück in Deutschland für die Chinesen ganz besonders interessant sein müssten. Weil ungewöhnlich. Weil fremd. Weil erheiternd, selbstfindend, tragisch. Weil weil weil…
In Wirklichkeit rauschen die Texte an den Studenten ziemlich reglos vorbei. Inhaltlich und begrifflich. Der Förster, der einsam mit seiner Füchsin lebt, nun ja. Der Oberbürgermeister, der seine Gedanken mit mir teilt. Immerhin eine Respektsperson, schon besser. Ganz gleich, was er sagt. Und so viel sagt er nicht. Eine Domina mit Psychatarieerfahrung. Nun gut. Ist ja auch eine harte Geschichte. Was habe ich mir nur gedacht? Aber dann den Studenten summa summarum auch noch als Ergebnis meiner deutschen Glückssuche weismachen zu wollen, dass Krisen und Unglück, wenn nur leidenschaftlich genug abgearbeitet und in in tiefster Seele transformiert, allen Ernstes der Motor für das große Glück sein sollen? Der Deutsche also ein immer währender Phönix aus der Asche ist …? Wirklich! So ein Unsinn. Das ich-zentrierte, psychologische, lineare, deutsche Denken schaut hier, trotz erstaunlich vieler Gemeinsamkeiten, dann doch einfach nur auf sein Gegenbild: auf das pragmatische, zirkuläre Denken der Chinesen. Unglück kommt, Unglück geht. Nicht viel mehr. Allem Jin und Yang zum Trotz. Und daher sind die jungen Chinesen, die hier vor mir hübsch aufgereiht sitzen, wenngleich sehr zugewandt und neugierig, ob meiner Unglückstheorie noch nicht einmal bereit zu einer Diskussion. Stattdessen wird ersteinmal geklärt, was jeder weiß:
Ein gutes Leben auf chinesisch heißt: Wohnung, Auto, Familie, Geld. Fertig.
Okay, denke ich. Mag sein. Unser deutsches Glück wächst also auf einem anderen Boden als in China, dennoch wird doch bestimmt auch der einzelne Chinese etwas ganz besonders schätzen, das er synonym für Glück einsetzen würde. Und ich frage: „Was gibt es noch?“ Es muss ja nicht gleich die Domina sein. Ich schaue in die Runde. „Schreibt es doch mal an die Tafel“, bitte ich. „Was macht euch glücklich?“
Die Studenten stehen auf und schreiben:
Bekannte treffen. Spaziergang. Selbstbewusstsein Lächeln. Ewige Jugend. Selbstverwirklichung. Lecker Essen. KEIN Unglück (haha!). Liebe. Familie… Singen. Tanzen. Frühlingsfest. Lotto …
Lotto? Da hake ich nach. „Von wem ist das?“ Der einzige chinesische Junge unter sonst nur Studentinnen im Raum meldet sich. „Warum Lotto?“, frage ich noch einmal, „weil du viel Geld besitzen möchtest?“ Der Junge lacht. „Nein!“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Ich möchte gewinnen, damit ich damit für andere etwas machen kann.“ Aha… Ich nicke. Das chinesische Gruppenprinzizp wieder. Schaue wieder auf die Antworten. Da ist noch etwas, das ich besser verstehen will.
„Und wer möchte immer jung und schön sein?“ Ich habe die ewige Jugend auf der Tafel im Blick. Ein Mädchen erhebt sich schüchtern. „Ich möchte immer jung sein.“ Ein stummes Aha! rauscht durch die Köpfe. Die anwesenden Deutschen denken an Eitelkeit.
Die Chinesinnen kichern und tuscheln. Das Mädchen derweil steht noch immer und fährt fort: „Junge Leute haben mehr Zeit, mehr Möglichkeiten, können reisen. Erwachsene sehen einem noch Dinge nach. Deswegen möchte ich immer jung sein.“ Oh… ach so!
Und was meint die Direktorin der Universität? Sie sitzt ganz hinten und sagt: „Für Menschen in meiner Generation ist Zeit zu haben das größte Glück.“ Aber an die Tafel geschrieben hat sie es nicht.
Ich frage die Studentinnen manches noch, zum Beispiel: „Macht ihr immer, was die Familie vorschreibt?“ Nur eine meldet sich zögerlich. „Ich mache nicht, was meine Familie sagt. Meine Eltern wollen, dass ich mir nach dem Bachelor eine Arbeit suche. Aber das mache ich nicht. Ich will weiter studieren und reisen können.“ Ich freue mich über ihre mutige Antwort und überlege, welcher der Begriffe auf der Tafel wohl von ihr ist. Selbstverwirklichung vielleicht? Nein. Sie errötet. „Lecker Essen.“
Und was fällt dem deutschen Leiter des Qingdaoer Sprachlernzentrums, Oliver Müller, zu der Frage nach dem Glück ein? Die Chinesen sind schon weg. Da kommt er nachdenklich zu mir und sagt:
„Während ich deinen Texten zugehört habe, fiel mir etwas ein, das ich nie vergessen habe. Ich habe mich einmal mit einem Mann unterhalten. Er wohnte in einer Pekinger Toilette. Mit Familie. Zu viert. Ich bin glücklich, hat er gesagt. Denn ich habe eine Wohnung. In einer Toilette. Und wie ihn gibt es viele.“
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