Sun Yanqin, 43 Jahre, Geschäftsfrau und Buddhistin
Unser Weg führt uns an diesem Tag hin zu einem Pekinger Teehaus. Genauer gesagt: ein buddhistisches Pekinger Teehaus und mit Sicherheit das goldenste, das ich bislang gesehen habe. Oder anders gesagt, es ist ein bisschen wie ein edler in alt-chinesischem Stil gehaltener Indoor-Freizeitpark für Erwachsene mit Niveau. Das Haus hat mehrere Geschosse, viele Separees und jede Menge Buddhafiguren, die man nicht fotografieren darf. Gäste sind keine da und die hübsch gekleideten, angestellten Damen langweilen sich.
Es ist ein merkwürdiger Ort, denn zwei große Dinge aus dem untergegangenen China treffen hier unwirklich und sperrig aufeinander: Teekultur und Buddhismus. Zwei mächtige alte Dinge. Allein dem Tee kommt historisch betrachtet eine so große Vielfalt an Bedeutung zu, dass einem ganz schwindlig werden kann. Ist das Aufgießen von Tee schon eine höchst komplizierte und sehr rituelle Handlung, so ist die Vielfalt an Häusern, in denen das Teetrinken zelebriert wurde, nicht weniger facettenreich gewesen.
Da gab es zum Beispiel in Peking das so genannte Shu-Teehaus, ein Ort, an dem in vielen Fortsetzungen dem Publikum Geschichten erzählt wurden, die erst im Nachhinein ihre Niederschrift fanden und manchmal zu großer Literatur wurden, wie etwa das Erzählstück „Die Räuber vom Liangshan-Moor“. Am bekanntsten sind aber wohl die kleinen spartanischen Häuser, die mehr der Geselligkeit dienten. Dort hängte man im Sommer frühmorgens seinen mitgebrachten Vogelkäfig in die Bäume, trank, spielte Schach und redete über alles Mögliche. Im Winter hingegen erfreute man sich an der Wärme der Innenräume, an zirpenden Grillen und flatternden Schmetterlingen. In einem der Groß-Teehäuser dagegen machte man Geschäfte und in einem Feldteehaus gab man sich der Kontemplation hin und genoss obendrein bessere Wasserqualität. All das und viele Varianten mehr, gibt es so heute nicht mehr. Die Kulturrevolution hatte einst andere Ideen als Traditionen des Kaiserreiches fortzusetzen. Was es heute gibt: eine wieder erwachte Teekultur, die sich zu erinnern versucht, neue Teehäuser und jede Menge hauseigene Teetischchen mit kleinen bauchigen Kännchen. Manchmal sieht man hier und da auch einen vereinzelten Vogelkäfig wieder in einem Baum hängen, aber man weiß dann nicht so recht warum. Über den Tee kann man wirklich viel erzählen. Er führt einen fern vom sinnlichen Genuss sogar in die Nähe von Taoismus, Geistern und Bestattungsriten, in ein Feld zwischen Aberglaube und Pietät. In jedem Fall aber ist er heute wieder ein großartiges, identitätsstiftendes Stilmittel und höchst willkommen um Chinas Heimatgefühle zu sättigen. Genau wie der Buddhismus. Ebenfalls neu entdeckt und, außer in der Riege der Parteimitglieder, auch wieder erlaubt. Der Buddhismus bietet zumehmend für viele die Chance einer Sinnfindung in oder nach einem arbeitsintensiven Alltag. Und natürlich hat der Buddhismus wie der Tee einen langen Weg hinter sich. Einst eingewandert über Indien, verfeinert, zersplittert, in immer neuen Strömungen zergliedert, als Zen-Buddhismus nach Japan abgewandert, mehr oder weniger verankert im chinesischen Volk, mal mehr klösterlich, mal mehr volksnah und meditativ verstanden, schließlich ein festes Bündnis eingehend mit Konfuzianismus und Taoismus, und wie der Tee, garniert mit ein paar chinesischen Geistern, wurde er doch über die Jahrtausende eine feste Größe des chinesischen Weltverständnisses. Bis eben auch hier Mao kam. Aber was vergessen und weggedrängt ist über so viele Jahre, hat natürlich eine um so größere Kraft, taucht es doch wieder auf, sei es im alten oder irgendwie neuen Glanz.
So zu verstehen ist auch dieses buddhistische und uns künstlich anmutende Teehaus, in dem wir nun aufschlagen, ein Abglanz, eine Hoffnung, eine Erinnerung. Genau wie meine Gesprächspartnerin Sun Yanqing, die uns hier, an ihrem Lieblingsort, bereits sehnlichst erwartet. Sun Yanqing ist eine quirlige Freundin von Bo, meinem Dolmetscher. Bo sagt, mit ihr kann er sich unterhalten, sie hört zu. Deswegen gehen wir zu ihr. Zuhören ist eine nicht zu unterschätzende Qualität. Besonders in China, findet Bo. „Denn die Chinesen hören nie zu“, sagt er auch oft und zeigt sich darüber immer wieder sehr verärgert.
Sun Yanqing nun ist eine kleine und rundliche Person mit einer ebenfalls kleinen und rundlichen Kurzhaarfrisur, arrangiert für andere Leute seit fünfzehn Jahren Konferenzen, ist um die vierzig und möchte uns heute nachmittag ganz viel von ihrer Liebe abgeben. Mitgebracht hat sie zu diesem Zweck ihren Ehegatten, der nicht so recht weiß, was er hier soll, der aber immerhin selbst wie ein leibhaftiger Milo-Buddha aussieht. Kahler runder Kopf und Kugelbauch. Nur das Lachen fehlt. Stumm und ausdruckslos wohnt er einer kleinen Gesellschaft bei, die zwischen den goldenen Buddhas, Tee und Nüssen versucht zu klären, was jetzt ganz genau das Glück seiner Frau ist. Und das ist nicht einfach. Denn egal, was ich frage, irgendwie bekomme ich immer nur eine Antwort: „Wu Wei!“ Der Weg ist das Ziel.
Gutherzig, gebetsmühlenartig, unbeirrt, aber auch etwas wirr, erklärt sie mir, der Frau aus dem Westen, die Grundbegriffe des Buddhismus in immer neuen Anläufen und langen Schlaufen und ich kann ihr meinerseits nicht verständlich machen, dass mir diese hinlänglich vertraut sind, weil das kirchenverdrossene Deutschland schon seit langem ein Auffangbecken asiatischen Gedankengutes ist, so wie umgekehrt China ein Auffangbecken für das Christentum geworden ist. Wu wei. Wu wei. Wu wei. Sun Yanqing ist wie eine sich verströmende Lichtquelle. Was ihr Mann nicht hat, strömt sie im Übermaß aus. „Ich habe ein sonniges Herz“, sagt sie selbst und sie hofft, dass das rüber kommt, die Menschen erreicht. Uns erreicht. Sie möchte doch so gerne uns etwas geben. In ihrem Inneren lodert nur eines: die Freude, den Buddhismus für sich
entdeckt zu haben. Sie ist ein Kind, das etwas Ungeheures, etwas Neues im Einheitsgrau der nivellierten Werte und untergegangen Traditonen entdeckt hat. So sehr glüht sie, in ihrem Gefühl eine Pionierin, und doch nichts weiter als eine von etwa 250 Millionen Buddhisten in China.
Wie sie zum Buddhismus kam? Der rechte Moment zur rechten Zeit. Beides. Sagt sie. Auch: „Ich habe schon immer das Gefühl gehabt von einer geheimen, guten Kraft geführt zu werden.“ Aber welcher? Das war ihr immer ein Rätsel. Jetzt weiß sie es. Jetzt macht alles einen Sinn. „Erst im Buddhismus habe ich in dem Gefühl der Führung eine Entsprechung gefunden.“ Das erste Mal kam sie mit dem Buddhismus zu Schulzeiten in Berührung. Eine Freundin war Buddhistin. „Aber da war mir das noch fremd gewesen.“ Doch der Zufall wollte es, dass sie sich eines Tages an eben jene Freundin erinnerte und sich die Tür zum Buddhismus für sie dadurch postum offenbarte. Der rechte Moment zur rechten Zeit. Zufall und Bewusstheit. Zen.
Das geschah vor zwei Jahren und seither widmet sie sich vor allem der Zen-Meditation. In der Meditation hat sie etwas gefunden, das ihr Ich erklärt, sie überhaupt zu einem Ich macht, und dieses gleichzeitig, kaum gefunden, im Großen Ganzen, im Zen, wieder nivelliert. In den Frieden bettet. Die chinesische Ergebenheit im Kollektiv einfach ins Universelle übertragen. Irgendwie. Denke ich. Ich denke auch: Die Partei sollte, statt den Buddhismus zu untersagen, ihn besser allen Parteifunktionären zur Pflicht machen. Sun Yanqing denkt andere Dinge. Buddhismus ist wie sie einfach nur eines: Liebe.
Freudig wackelt sie auf ihrem Stuhl hin und her. „Ich habe ein Gedicht geschrieben“, sagt sie lebhaft. Ob ich es hören will? Ein Zen- Gedicht! Sicher, sage ich… und Bo übersetzt:
Ruhige Himmel / Leere Erde / Duft des Lotus / Schöne Landschaft liegt in Entfernung / Die Zeit vergeht schnell / Aber die zeitlose Zeit besteht aus jeder Minute / Die Jahre sind gefühllos / Ich denke oft an die Vergangenheit / Ich sehe etwas / Aber in der Wirklichkeit gibt es nichts /
Nach dem Traum fließen die Tränen.
Sun Yanqing ist sehr stolz auf ihr Gedicht. So viele tolle und tiefe Gedanken hat sie, seit sie dem Buddhismus zugeneigt ist und vor allem ist sie darin eben glücklich. Ihr Glück, so gesehen, ist doch sehr einfach zu erklären. „Glück“, sagt sie ferner, „kann ich mir auch ausdenken. Alles im Alltag kann Glück sein.“ Ziele zu setzen, findet sie dafür sehr hilfreich. Aber nur kleine, konkrete Ziele am Tag. Ziele, die man erreichen kann.
In ihrer Freizeit hört sie gerne Hörbücher oder unterhält sich auf Wechat mit ihren Freunden. Sie hat eine große Tochter, die in Kanada studiert und die hoffentlich eines Tages eine Enkeltochter mit nach Hause bringen wird. Darauf freut sie sich ganz besonders. Die Großmutterpflicht ist ihr keine Pflicht, nur Freude. „Ich habe ja nur ein Kind haben dürfen“, sagt sie bedauernd.
Ich frage Sun Yanqin, was ihr an China am meisten gefällt. Sie sagt: „Die Landschaft.“ Und Deutschland? Sie kennt Deutschland nicht, aber sie stellt sich vor: „Die Ruhe.“ Ihr Mann sagt nach wie vor nichts. Er schläft ein. Und ich überlege mir, was wohl der Lebenssinn von einer glühenden Buddhistin wie Sun Yanqin ist, deren Ziel das Aufgehen des Selbst im Nichts ist. Welche Inschrift würde wohl ihr Grabstein haben? Sun Yanqing denkt nach, dann sagt sie:
„Auf meinem Grabstein soll stehen: Ich bin da gewesen.“ Ich nicke. „Ein schöner Satz“, sage ich. Ein Satz, der den eigenen Wert am Ende doch noch fraglos herausstellt. Findet Sun Yanqing auch und ergänzt, was sie damit meint: „Ich hoffe, ich war den anderen von Nutzen.“ Oh. Ich schweige. Lächelnd.
Denn ich bin die Frau aus dem ichbezogenen Westen. Mein Ich sieht anders aus. Und ich denke unwillkürlich an die Grabstätten in den chinesischen Großstädten. Ich habe sie mir angesehen. Kleine Stahlboxen in Hallen, in denen unzählige namenlose Urnen ruhen, welche nach erfolgter Beerdigungsprozession an der Urnenpforte abgegeben und hernach nie wieder besucht werden. Keine persönliche Inschrift. Nichts als eine kollektive Wüste aus Stahl und Asche. Die chinesische Ergebenheit der eigenen Nichtigkeit bis in den Tod. Geht an einem solchen Ort der Sinn des Lebens auf? Das Ich? Was ist das Ich?
Bo sagte einmal: „Wir Chinesen suchen schon immer nach der Unsterblichkeit.“ Warum, fragte ich. „Aus Angst vor dem Tod“, erwiderte Bo. Die Chinesen können viel. Doch auch sie sterben bis heute noch immer. „Und tot ist tot“, findet Bo. Und ein Leben danach, eines, das trösten würde, nein, das gibt es nicht. Für einen Buddisthen kein Problem. Doch Bo ist kein Buddhist, sein Ich vergeht klanglos ohne Sinn in einem Urnengrab. Weder geht es ein in ein großes hoffnungsfrohes Nirwana, noch in einen mildtätigen Himmel. Noch will Bo eines von beiden für sein Ich in Erwägung ziehen. „Ich darf mich nicht überschätzen“, sagt er stattdessen. „Meine Seele ist das, was ich geschrieben habe. Ich bin nur Fleisch.“ Er sagt dies sachlich, doch mit einem für ihn typisch störrischen Gesichtsausdruck, wie so oft in solchen Fragen, so als würde er sich andere gesprochene Worte wünschen. Möglicherweise schreibt er darum jeden Tag literarische Sentenzen, einfach, um am Leben zu bleiben. Kann sein.
Wie hoffnungvoll froh dagegen wirkt die grenzenlos glückliche Naivität von Sun Yanqin, die ihren Sinn im Leben über den Tod hinaus gefunden hat. Ihr Mann ist inzwischen erwacht. Das ist gut, denn jetzt verabschieden wir uns von ihr und dem Teehaus in seinem seltsamen China-Retrostyle, dem Versuch einer Erinnerung. Sehnsüchtig und verspielt. Noch in die Zukunft Chinas tastend. Oder wie Sun Yanqin sagen würde: Wu Wei.
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