Wang Jingqiao, 53 Jahre, Rentnerin
Peking, acht Uhr morgens. Wir sind gerade mit dem Flugzeug gelandet. Das Hotel will uns noch nicht haben. Und so verbringen wir den Morgen im Himmelspalast, der anders als sein Namen vermuten lassen könnte, kein Palast ist, sondern eine große Parkanlage, in der unzählige Menschen ihren morgendlichen, sportlichen Aktivitäten nachkommen. Tanzen, Taichi, Gymnastik aller Art, alleine oder in Gruppen. Ich staune, wie viele Menschen hier schon so früh unterwegs sind und sich auf den Tag einstimmen.
Wir schlendern umher, machen hier und da mit, beobachten die Kalligraphen wie sie Wasserzeichnungen mit dicken Pinseln auf den Asphalt malen, sehen die Zeichnungen alsbald verdunsten, malen selbst, sehen Musiker und Sänger, Männer, die im Wechsel kurze, mit Inbrunst vorgetragene Auszüge aus der Pekingoper schmettern, – eine Art Frischluft-Karaoke für die ältere Generation-, beobachten wieder andere beim Pokern, sonstigen Karten- oder Geldspielen und werden sogar unbemerkt im Vorübergehen gezeichnet. Zwei Langnasen in der Menge. Eine bunte Gesellschaft tut sich vor uns auf. Alte Menschen und nicht ganz so alte Menschen, junge Menschen weniger, aber doch eben ein breites Feld sozialer Strukturen. Leider bin ich gar nicht in der Stimmung, diese Chance für Kontaktaufnahmen aller Art für spontane Interviews zu nutzen. Fühle mich noch mit dem halben Fuß in Deutschland hängend, müde und ungeduscht, doch schiele sehnsüchtig nach Menschen, denen ein Gespräch ein willkommener Zeitvertreib sein könnte. Inzwischen sind wir dort, wo hauptsächlich Männer auf einem langen Holzbalken sitzen, ein Balken, den sie womöglich die nächsten Stunden nicht verlassen werden. Ich schaue, ich zögere. Bo, mein Dolmetscher, sagt: „Wir können ja mal die drei Herren dort fragen.“ Er deutet auf drei rege, schwatzende Männer. Ich nicke. Sehe, dass sie uns neugierig mustern. Bo erklärt kurz. Einer der Männer möchte bereits antworten, sieht sehr freundlich und gesprächig aus, doch sein Nebenmann ist übel gelaunt und wehrt ab. Überhaupt, eine blöde Frage…
„Glück? Das Wort kenne ich nicht“, faucht dieser. „Ich warte auf den Abend. Dann ist der Tag vorbei.“ Er scheucht uns weg. Na gut, schade. Immerhin jedoch war dies ein Statement. Und bevor Bo weitersuchen und weiterfragen kann, klingelt sein Handy. Eine Freundin ruft ihn an. Wang Jingqiao. Sie ist irgendwo hier auf einer Wiese, macht Taichi und wartet auf uns. Wenn wir wollen. Wir wollen. Wang Jingqiao, die ihre Übungen unterbricht als sie uns bemerkt, kommt in blauem Anorak und Pferdeschwanz unter Sonnenkappe auf uns zu und reicht uns braungebrannt und fröhlich die Hand. Sie ist erst 53 Jahre alt, aber schon Rentnerin, hat offensichtlich für reichlich kapitales Auskommen in der Vergangenheit gesorgt, und freut sich nun, dass ihr Alltag endlich viel Zeit für Sport und Reisen bereit hält. Ihr Sohn ist schon groß. Sie ist frei. Und sie ist glücklich. Jetzt. „Ich kann mich das erste Mal um mich selbst kümmern, nur um mich“, sagt sie. Doch Freiheit nach chinesischer Manier hat ein anderes Gewandt als Freiheit in Deutschland, daher fügt sie schnell hinzu: „Wenn man für sich selbst sorgt, sorgt man auch für die Gemeinschaft.“ Egoistisch will man ja nicht klingen. Konfuzius, für eine Weile mitsamt aller Tradition und Werte unter Mao totgesagt, hat doch in allen Familienstrukturen in China überlebt. Die Familie. Das Glück und die Familie. Nichts wäre wichtiger.
Wang Jingqiao ist guter Laune und öffnet ihren Rucksack. Sie hat Süßigkeiten darin. Ihr dreiundzwanzigjähriger Sohn hat tags zuvor geheiratet, dies sind die Reste und die verteilt sie an uns. Toll, Glückwunsch, sagen wir. Ja, schon toll, findet auch Wang Jingqiao und nickt, doch ein Schatten legt sich für einen Moment über ihr sonniges Gesicht. Sie macht sich Sorgen. Der Hochzeit ihres Sohnes, so mutmaßt sie, wird sicher bald ein Enkelkind folgen, und dem Enkelkind die Großmutterpflicht. Dann muss sie wieder ran. Das ist so. Familie und Pflicht und Verantwortung. „Und genau das will ich nicht“, sagt sie vehement. „Ich will noch nicht Großmutter werden.“ Mögen sich alle anderen Mütter in China nichts sehnlicher als ein Enkelkind wünschen. Sie nicht. Konfuzius, manchmal kommt er auch in China ungelegen. Bekümmert schaut Wang Jingqiao auf die Süßigkeiten. …spürt zugleich die Sonne auf der Haut, die Kraft des frischen Morgens, die Zeit, die ihr neuerdings anregend zu Füßen liegt und den Körper, der sich, wann immer er will, bewegen darf… all diese wunderbaren Dinge spürt sie. Und ich spüre, das sie das spürt. Hastig und plötzlich schnürt sie darum ihren Rucksack wieder zu. Es ist mit einem Mal Eile geboten.
Noch schnell ein Foto, allein, gemeinsam, dann verlässt sie uns mit festen, schwingenden Schritten. Die Freiheit duldet keinen Aufschub. Wer weiß, wann der Samen eines Enkelkindes gepflanzt wird, vielleicht schon heute. Wir blicken ihr hinterher. Sie verschwindet zwischen all den anderen Menschen, wird vom Einzelnen wieder zur Masse und während wir so schauen, merken wir, dass wir Hunger haben. Die erste chinesische Mahlzeit wartet auf uns. Endlich. Chinesische Nudelküche und warmes Bier zum Frühstück. Voilá. Wir sind angekommen. Und anders als Wang Jingqiao laufen wir auch erstmal nicht weg.
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