Zhao Xiangyang, 44 Jahre, studierter Physiker und Psychologe

„Mutter, wenn ich groß bin, werde ich Präsident von China.“ Das war der kindliche Plan.  Allein die Zukunft als Erwachsener hatte anderes im Sinn und so wurde Zhao Xiangyang nach vierjährigem Physikstudium statt Präsident erst mal Lehrer der Physik an einer Highshool in Peking, dann Professor an der Normal Universität für Cross-Cultural-Management und nebenbei noch studierter Psychologe. Das ist recht viel und auch nicht übel, doch Zhao Xiangyang hadert mit seiner Arbeitsstelle. „Zu wenig Freiheit“, sagt er verärgert. „Immer Leistung, zu viel Formulare und zu wenig Forschung.“ Er würde gehen, etwas anderes machen, an einem Ort arbeiten, der ihn mehr inspiriert, den er selbst mehr inspirieren kann, aber so einfach ist das alles nicht mit den persönlichen Träumen. Hier in China. Und auch nicht mit Seele und Körper. Das in rasantem Tempo neu erwachte China geht auf Kosten von brennenden Leuten wie Zhao Xiangyang, Menschen einer Generation, die in ihrer Kindheit die bittere Armut einer kläglichen chinesischen Epoche kennengelernt haben und nun in einem Fluchtinstinkt nach vorne mit so viel Business, Pragmatismus und wiederentdecktem chinesischem Stolz alles daran setzen, die Armut der Eltern hinter sich zu lassen, diese in Macht und Geld eintauschen und so dem fernen Licht  eines weltumspannenden Wohlstandes folgen. China, das neue Land, wo die Millionäre blühen.

Doch kann das gut gehen? Auf Dauer? Das alles seinen Preis hat, das weiß heute auch Zhao Xiangyang. Auch er ist einer von den Chinesen, die brennen, und auch seine Eltern waren arme Bauern. Sie hatten sechs Kinder, er war das jüngste. „Ich war verwöhnt, egoistisch. Und ich war schon immer anders“, resümiert Zhao Xiangyang seine Person und seinen Start ins Leben. Er träumte von klein an nicht nur davon Präsident zu werden, sondern vor allem von der „individuellen Freiheit“, und zwar so wie sie seine Romanhelden in der westlichen Literatur erlebten. Besonders mochte er die Bücher von Jack London. Viele Chinesen mögen die. Weite, Abenteuer, Ich. Eine Macht, an der man selbst strickt und ein Ich, das man selbst formt. Aber was in den Geschichten der Europäer vornehmlich Ergebnis einer individuellen Anstrengung und konstruktiver Reibung mit der Außenwelt ist, nimmt sich in China anders aus oder wie Zhao Xiangyang sagt: „In Deutschland muss ich die Beziehung zwischen mir und mir selbst klären. In China ist Erfolg und Anerkennung nur in der Gruppe möglich.“ Und eine Gruppe, klar, ist kein Individuum. Zhao Xiangyangs Bild von Freiheit gleich Macht fand in der chinesische Gesellschaft und Realität wenig Resonanz, erfolgreich wollte er dennoch sein. Also machte er, was alle in China erstmal machen, wenn sie nach oben streben: Leistung bringen. Und niemals klagen.

Aber das half nichts. Erst war es nur Stress. Viel Stress. Dann kam noch Liebeskummer hinzu. Und als drittes folgte eine schwere Depression. Ein großer Bruch. Vor knapp zwanzig Jahren. Seine Familie, erzählt Zhao Xiangyang, habe ihm damals durchaus Rückhalt gegeben in jener Zeit, und doch sei das, was man dabei erfahre, nichts weiter als eine gesellschaftliche Isolation aufgrund eines Makels. Man zieht sich zurück und man spricht nicht darüber. Depression ist etwas für Schwächlinge. Zhao Xiangyang sagt daher:

„In Deutschland gibt es die Sünde, aber in China die Schande!“

Eine Depression ist ein Gesichtsverlust und ein Tabuthema. Und das, obgleich es laut einer offziellen Statistik etwa 30 Millionen an Depression Erkrankte in China geben soll. Zhao Xiangyang wirft leidenschaftliche die Arme in die Höhe. „Die Dunkelziffer davon noch ausgenommen!“ Und nicht zu vergessen: „Hinter jedem Depressiven stehen mindestens drei Personen.“ Vater, Mutter,  Ehepartner. Und eine große Überforderung. Es wäre dringend Hilfe nötig und vor allem Aufklärung, „doch nur die Reichen haben einen Therapeuten.“ Wenn überhaupt. Das Krankheitsbild der Depression ist also vor allem eines: das Gegenteil von Erfolg und Macht und Freiheit. Manchmal sogar das Ende von allem.

Für Zhao Xiangyang war das nicht anders. „Nun kann ich vielleicht nicht mehr Präsident von China werden“, sagte er bedauernd zu seiner Mutter. Er war ganz offenbar ein Versager. „Nicht schlimm, Junge“, gab seine Mutter milde  zurück. „Nicht jeder kann Präsident werden.“ Ein Lächeln. Und da ging Zhao Xiangyang  ein Licht auf, „ein Top-Erlebnis“, sagt er. „Denn es gibt nichts, das man nicht überwinden könnte.“ Jedenfalls wenn man Chinese ist. Aber noch wichtiger: Vielleicht ist die Depression gar nicht das Ende einer Karriere, vielleicht wollte sie lediglich etwas deutlich machen. Und wenn dem so wäre… „Dann liegt die Schuld vielleicht nicht bei mir, sondern bei den anderen.“ Zhao Xiangyang blickt uns triumphierend an. In ihm hat es gedacht. Und was da gedacht hat! Mag diese Überlegung für uns banal klingen, in Chinesischen Köpfen klingt es ungeheuerlich, die Schuld für eine Depression am Gerüst einer Gruppe zu suchen. Dabei liegt es auf der Hand: „Die Chinesen leiden unter so einem großen Alltagsdruck. Die teuren Wohnungen. Die teure Bildung der Kinder. Der Zeitmangel.“ Und sogar ein Chinese, so tapfer und strebsam er ist, kommt irgendwann an den Rand seiner Belastbarkeit. Für viele mündet das, wenn nicht im Zusammenbruch, doch zumindest in einer Sinnsuche außerhalb. „Der Buddhismus und das Christentum wachsen unter diesem Druck enorm. Man sucht Ruhe“, sagt Zhao Xiangyang. Auf dem Land ist es das Christentum, das Zulauf erfährt, in der Statdt unter den Intellektuellen, vornehmlich der Buddhismus. Auch Zhao Xiangyang hat sich nach der ersten Depression stark mit dem Christentum auseinandergesetzt, „Freiheit mit Beschränkung“ nennt er es und „eine Religion des Vertrauens“, nur sei es mit dem Vertrauen in China nicht weit her, wohl auch nicht bei ihm selbst, und so entschied sich Zhao Xiangyang im Zuge einer weiteren Depression, die zehn Jahre später folgte, statt für das Christentum, für den Buddhismus, denn dieser offenbarte sich ihm „als die höchste Weisheit“. Nur: Ist diese Weisheit des Buddhismus überhaupt lebbar? Im System? Im Alltag?

„Das ist für mich immer noch schwierig“,  gibt Zhao Xiangyang zu. „Ich bin im Prozess. Wie ein Tausenfüßler. Welches Bein zuerst?“ So war das lange. „Dann bin ich umgekippt. Ich war individuell. Und jetzt bin ich nicht mehr frei wegen der Familie. Ich habe eine Tochter. Ich muss Verantwortung übernehmen, Geld verdienen und lernen, die Unvollkommenheit der Welt anzunehmen, ohne viel nachzudenken.“ Aber wenn man das schafft, die Welt wie sie ist akzeptieren kann, „dann bekommt man auch keine Depression“. Um all diese Dinge besser zu verstehen, begann Zhao Xiangyang Psychologie zu studieren. „Ich wollte auch lernen, wie ich selbst anderen Menschen in einer solchen Situation helfen kann“, sagt er. „Aber ich war sehr enttäuscht über die hiesigen Lehrer, nur unbedeutende Freud-Schriften und immer Marx.“ Er wollte schon aufgeben, da entschloss er sich für eine Fortführung des Studiums in Deutschland und fand auch einen Doktorvater, vor dem er Achtung haben konnte, Michael Frese, ein international berühmter Psychologe mit dem Schwerpunkt Stressmanagement und Arbeits-und Organisationspsychologie.

„Ich hatte keinen Kulturschock als ich nach Deutschland kam, aber ich hatte einen als ich aus Deutschland zurück kehrte.“

Sagt Zhao Xiangyang. Im Ausland ist ihm so manches schlüssig geworden und nun, da wir in seinem Universitätszimmer sitzen, platzen diese Dinge, die er für sich erkannt hat, wie ein Feuerwerk aus ihm heraus. Es hagelt Grundbegriffe der Psychologie. Eine helle Freude und eine fast arrogante Verzweiflung über so viel Unwissenheit im eigenen Land.

Was Zhao Xiangyang aber vor allem mitgebracht hat, ist die Erkenntnis, dass er  selbst kein Versager ist. In dieser Konsequenz macht er Ungeheurliches: Er bricht ein Tabuthema und geht mit seiner Depression in die mediale Öffentlichkeit, schreibt Bücher und doziert seither erfolgreich über seine Erfahrungen und sein Wissen. Er hat außerdem eine eigene Firma gegründet, ein Sozialunternehmen, das depressiven Menschen, auch denen der nicht finanzkräftigen Schichten, eine Unterstützung im Notfall bieten möchte. Name der Firma: Prometheus. „Er soll gleichbedeutend mit Feuer die Finsternis vertreiben.“ Quasi eine Kampfansage. Ein langer Marsch auch. Auf jeden Fall ein Topos, den Zhao Xiangyang in Relation zu Hitlers Mein Kampf setzt, eine für die Chinesen immer wieder bedeutende Lektüre. Nicht der Inhalt im Speziellen, doch der Titel, der spricht an. Der harte Weg eines Einzelnen, der konsequent für eine Idee einsteht. Eine Individualität, eine Form gelebter Freiheit. „Aber Hitler hat einen Fehler gemacht“, sagt Zhao Xiangyang ernst. „Er hat das Prinzip der Harmonie übersehen: Glück ist zwei in einem. Familie und ich. Gesellschaft und ich.“ Was nun weniger nach westlicher Psychologie klingt, sondern nach uraltem China. Nach Konfuzius. „Harmonie zwischen Individualität und Verantwortung für die Gemeinschaft“, nennt es Zhao Xiangyang auch oder: „Die erste Kontrolle ist man selbst. Die zweite Kontrolle das System und die dritte die Moral.“

Zhao Xiangyang ist stolz auf sich. Er ist nicht Präsident geworden. Aber ein Führer von etwas, das in der chinesischen Gesellschaft erkannt werden muss. Dass seine private Geschichte nicht unitär ist, dass sie lediglich ein gesamtchinesisches Problem widerspiegle, das auf den Zusammenbruch der chinesischen Kultur vor 150 Jahren zurückzuführen sei, „das weiß ich jetzt“, sagt Zhao Xiangyang. Und das bruhigt. Macht das Individuum wieder zur Gesellschaft. Entfernt den Makel. Und ebnet die Freiheit zurück ins Kollektiv. Oder doch nicht? Wie war das doch gleich mit der Individualität?

Wir verlassen Zhao Xiangyangs Zimmer, dass vor Intellekt und Leidenschaft  vibriert und doch nach unserer Auffassung in einer Widersprüchlichkeit verharrt. Nämlich in der erstaunlichen Erkenntnis, dass die größte Kritik am System immer kleiner ist als die größte Vaterlandsliebe in China. Vielleicht kann man es so sagen.

©️ http://china-blog.simone-harre.de

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